Donnerstag, 30. Oktober 2014

Nazarethjahre



Letzte Woche saßen meine Freundin Bettina und ich beim Äthiopier und teilten das Brot und unseren Frust. Ich hatte anstrengende Tage voller Kindergeschrei hinter mir und haderte zum x-ten Mal mit meinem Alltag, wie er nun einmal gerade ist. Bettina ging es ähnlich an ihrem Arbeitsplatz mit all den Routineaufgaben und den Dingen, die sich nicht ändern (lassen).
Als wir ein paar Stunden später in die kühle Nachtluft traten und nach Hause fuhren, trug ich einen Gedanken in meiner Tasche, einen neuen, tröstlichen. Bettina hatte ihn mir gereicht: Den Gedanken an Jesus, der dreißig Jahre lang – den Großteil seines Lebens auf der Erde wohlbemerkt – unspektakulär in Nazareth gelebt hat. Ganz ohne Wunder und Starallüren. Dafür mit Dreck, Alltagsstumpfsinn und Arbeit. Ein Mensch ganz wie wir.
Dieser Gedanke steckt noch immer in meiner Tasche. Immer wieder fühle ich, ob er noch da ist. Manchmal nehme ich ihn auch heraus und betrachte ihn.
Das Ergebnis einer solchen Betrachtung ist der folgende Text.



Nazarethjahre
(Für Bettina)
Auf einem großen Stein im Schatten eines Baumes sehe ich ihn sitzen. Er sitzt lange dort, regungslos. Es ist auch viel zu heiß, um irgendetwas zu tun. Weit und breit ist kein anderer Mensch zu sehen, alle Dorfbewohner ruhen in ihren Häusern oder sonstwo im Schatten. Also gehe ich zu ihm hin und setze mich neben ihn auf einen Baumstumpf. Er lächelt und nickt mir zu.
Ich betrachte seine Hände. Arbeitshände. Braun und rau und stark. Und doch irgendwie sanft, wie sie auf seinen Unterarmen ruhen. Ich kann mir vorstellen, dass diese Hände die Kraft und die Sanftheit haben, um Kranke heilend zu berühren. Dann denke ich daran, dass diese Hände schon bald von Nägeln durchbohrt werden. Der Gedanke erschreckt mich und ich werfe einen schnellen Blick auf sein Gesicht. Schließlich kann er Gedanken lesen. Aber er blickt noch immer auf den felsigen Boden, lächelnd. Seine Hände. Zimmermannshände. Er bearbeitet Holz mit seinen Händen, er baut Häuser und Tische und was-weiß-ich mit seinen Händen. Mit diesen Händen, die Stürme stillen, Dämonen austreiben, Krankheiten besiegen können.
Und er sitzt hier unter einem Baum, in einem völlig unbedeutenden Kaff. Während um uns herum der Sturm tobt, während Menschen hoffnungslos sind, während sie leiden, bangen, zweifeln, sterben. Während sie auf ihre Erlösung warten. Sitzt die Erlösung hier und starrt Löcher in die Luft. Seelenruhig.
Ich rutsche auf meinem Baumstumpf hin und her. Es ist heiß, viel zu heiß, auch nur zum Sprechen, aber das lässt mir keine Ruhe. Dass seine Erlöserhände Holz hobeln. Dass seine Liebesaugen ins Leere schauen. Dass seine Wunderkraft beim Häuserbau vergeudet wird.
Er grinst vor sich hin. Sicher, er kennt meine Gedanken.
Ich weiß, er wird antworten, auf meine ungestellten Fragen. Aber er lässt sich Zeit.
„Ich bin ein Mensch“, sagt er schließlich. „Ein Mensch ganz wie du. Ein Mensch wie alle hier im Ort. Das ist meine Bestimmung, darum bin ich hier.“ Dann ist wieder Schweigen zwischen uns. Seine Worte haben mich bewegt. Welche Demut aus ihnen spricht. Immerhin ist er doch viel mehr als ein Mensch wie ich. Er ist Gott, der sich – für den Moment – mit Routinearbeiten begnügt, der Langeweile, Hitze, Staub und Alltagstrott erträgt. Der die Macht, die er hat, und all die Möglichkeiten seiner Gottheit, ablegt und selbst die Axt schwingt. Weil er eben ganz Mensch ist. Und wir Menschen müssen nun einmal mit Alltag, Stumpfsinn und Schweiß leben.
Aber ich bin noch nicht ganz zufrieden. Seine Bestimmung ist doch noch eine viel größere, geht es denn nicht um viel mehr als nur darum, ein Mensch zu sein? Er hat doch eine Botschaft, eine Mission – es geht um nichts Geringeres als die Rettung der gesamten Menschheit!
„Du hast natürlich Recht“, sagt er in die Stille hinein. „Meine Bestimmung geht weit über Nazareth hinaus. Die Menschen werden erfahren müssen, wer ich bin. Überall. Wenn der Tag für mich gekommen ist (und ich weiß, es ist schon bald soweit), bin ich bereit zu gehen. Dann wird es nicht mehr lange dauern und ich werde das Ziel meiner Mission erfüllen. Mit durchbohrten Händen. Aber eben noch nicht jetzt.“ Er weiß, dass mir sein „noch nicht“ schwer fällt. Dass ich ungeduldig bin. Dass ich Großes sehen möchte.
Aber er hat viel Geduld mit mir. Er nimmt sich Zeit, möchte, dass ich verstehe.
„Für euch zählt nur das Spektakuläre, das Große, das Wunderbare. Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen, die Auferstehung – das ist es, was in euren Augen zu einem Gott passt. Du findest es nicht angemessen, dass ich hier auf einem Stein sitze, dass ich abends für meine Freunde koche, dass ich meiner Mutter helfe. Und doch gehört all das zu meiner Mission, ist Teil meiner Bestimmung. Wenn ich später davon sprechen werde, dass der Größte unter euch euer aller Diener sein muss, dann habe ich es mir selbst nicht leicht gemacht. Ich habe es wirklich gelebt. Wenn ich sage, dass ihr euch zuerst im Geringen als treu erweisen müsst, dann weiß ich, wovon ich rede. Wenn ich meinen Jüngern die Füße waschen werde, warum nicht schon jetzt die Füße meines Vaters?“
Ich beginne zu verstehen. Er beeindruckt mich mit seiner Haltung, eigentlich mehr noch als mit seinen Wundertaten.
„Außerdem“, fährt Jesus fort „ist mir aufgefallen, dass ihr gern zwischen ‚Heiligem‘ und ‚Alltäglichem‘ trennt. Die Schrift zu rezitieren, ist etwas ‚heiliges‘, während ihr es als ‚profan‘ abtun würdet, die Wäsche zu waschen oder ein Kind zu stillen.“ Ich nicke, aber er redet schon weiter: „Dabei dreht sich ‚Heiligkeit‘ oder ‚Heiligung‘ nicht darum, sich abzusondern oder bestimmte religiöse Handlungen zu vollziehen. Vielmehr ist Heiligkeit ein Beziehungsbegriff: Es geht um die Beziehung zu mir, darum, mir nachzufolgen und in enger Verbindung mit mir zu leben.“
Ich spinne seine Gedankenfäden weiter: Dann kann auch mein Alltagstrott „heilig“ sein, das unliebsame Kloputzen, der nie endende Kampf gegen den Staub, das Trösten eines weinenden Kindes in der Nacht. Wenn ich es in Beziehung zu Jesus setze, es aus Liebe zu ihm tue, seinem Beispiel nacheifere – dann bin ich ganz in meiner Bestimmung. Der Alltag, mein Alltag ist heilig, weil Jesus ihn geheiligt hat.
Er lächelt, als er meine leuchtenden Augen sieht.
Dann erhebt er sich von seinem Stein.
„Es gibt noch viel zu tun auf Levis Baustelle“, sagt er und tritt ins gleißende Sonnenlicht.


Montag, 20. Oktober 2014

Mein Sorgen-Zoo



Du bist der Armen Gut und Teil,
verlässt sie ewig nicht;
du bist die Wahrheit und das Heil,
wie es dein Wort verspricht.
Wir leben, weil du uns beschenkst,
versorgst und herzlich liebst
und unser Leben freundlich lenkst,
indem du reichlich gibst.

Charles Wesley/ Hartmut Handt


Es ist ein trügerischer Gedanke: „Wenn sich erst dies oder das geklärt hat, wird es mir wieder gut gehen und ich kann zufrieden sein.“ Immer wieder falle ich darauf rein, obwohl mir inzwischen klar sein müsste, dass es so nicht funktioniert. Nein, so einfach stellen sich Sorglosigkeit und Glück nicht ein.
Im Klartext: Falko hat einen Job, am 1. November geht’s los! Letzte Woche kam bereits die Zusage der Firma, heute hat er sich endgültig entschieden und wird den Vertrag unterschreiben. Gott sei Dank! Wir dürfen, wieder einmal, in wahres Versorgungswunder erleben – nur ein Monat Arbeitslosigkeit, keine Notwendigkeit für Hartz-VI, die Ungewissheit hat so schnell ein Ende, und Falko wird (trotz Probezeit) zur Geburt unseres Winzlings Urlaub nehmen können. Gott ist so gut!
Und ich bin so kleingläubig.
Hatte ich doch gemeint, „alle meine Sorgen“ auf einen Schlag los zu sein, sobald Falko einen Arbeitsvertrag unterschrieben hat und das erste Gehalt auf dem Konto erscheint. Bitte, Vater, schenk Falko eine neue Stelle, damit wir die Unsicherheit los sind, damit ich mich nicht mehr sorge. Der Anti-Sorge-Effekt der guten Nachricht wirkte etwa einen Tag, wenn überhaupt. Wir waren glücklich, ausgelassen, gönnten uns Eis und Sachertorte in der Konditorei Reichert und umarmten uns ständig. Was für ein wunderbarer Tag!
Die Ernüchterung setzte – jedenfalls bei mir, für Falko kann ich nicht sprechen – jedoch ziemlich schnell ein. Neue Fragen bevölkerten plötzlich meinen Kopf und machten sich in mir breit: Wie wird unser Familienleben sich verändern, wenn Falko von nun an jeden Tag sehr früh raus muss und erst am späten Nachmittag nach Hause kommt? Wie werde ich den Alltag mit Kleinkind und Babybauch managen, wenn er mich deutlich weniger unterstützen kann? Werden wir eine bezahlbare und gut gelegene neue Wohnung finden – und wann? Wie sollen wir das mit der Wohnungssuche und dem Umzug schaffen, mit (dann) zwei kleinen Kindern? Wird das Gehalt auch reichen für all die Anschaffungen, die dann nötig sind?

Nein, die Sorge verschwindet nicht so einfach, lässt sich nicht so leicht vertreiben. Jedenfalls nicht durch eine Veränderung der Umstände. Sie scheint sich eher wie ein Chamäleon zu verhalten, das sich dem jeweiligen Lebenshintergrund blitzschnell anpassen kann. Das einen mit seiner schnellen, klebrigen Zunge einfängt, während man sich gerade noch so sicher gefühlt hat. Oder vielleicht ist sie wie ein Kugelfisch. Beim kleinsten Anlass kann sie sich aufblähen wie sonst was. Und wird riesengroß binnen weniger Augenblicke. Das meiste ist dabei nur heiße Luft… Dann entspannt sich die Lage und die Kugelsorge schrumpft auf ihre ursprüngliche Größe – natürlich nur bis zur nächsten Veränderung der Situation. Und dann könnte man Sorgen auch noch mit Geiern vergleichen, die ungeduldig in der Luft kreisen, bis sie endlich auf ihr Opfer in seiner Schwachheit herniederstoßen und dieses zerfetzen…

Mit diesem Sorgen-Zoo muss ich wohl auf andere Art und Weise umgehen lernen. Auf dieser Erde, in diesem Leben wird es immer Dinge geben, die unklar sind, ungünstig oder schlicht und einfach schwer. Ich brauche mir nicht länger etwas vorzumachen mit der Vorstellung, dass erst Noemis Eintritt in den Kindergarten, mein Wiedereinstieg in den Beruf, eine neue Wohnung, ein Auto oder endlich wieder regelmäßige Paar-Zeiten mein Leben „perfekt“ machen würden. Jede Veränderung der Situation bringt bei allen Vorteilen auch Schwierigkeiten und neue Fragen mit sich. Punkt.
In der Bibel werden wir ständig dazu aufgefordert, uns nicht zu sorgen. Wir sollen – und dürfen – unserem himmlischen Vater vertrauen, der sogar ein Auge auf die Spatzen hat und diese mit ihren täglichen Körnchen versorgt. So weit, dass ich mich überhaupt nicht sorgen würde, bin ich allerdings noch lange nicht. Mich spricht daher die Aufforderung sehr an, meine Sorgen auf Jesus „zu werfen“. Das bedeutet nämlich nicht, dass ich keine Sorgen hätte oder haben dürfte – vielmehr zeigt mir dieses Wort einen Weg aus der Sorgenspirale. Ich muss mich nicht mit meinen Sorgen abquälen. Ich darf sie bei Jesus abladen, immer und immer und immer wieder. So wie ich es bei Falkos Jobsuche schon geübt habe. Jetzt kann ich bei den Themen Wohnung, Alltagsbewältigung mit zwei Kindern und eigene Zukunftsperspektiven einfach weitermachen. Werfen war zwar im Sportunterricht nie meine beste Disziplin (von wegen „typisch Mädchen“…), aber Übung macht den Meister und außerdem geht es beim Sorgenloswerden ja nicht um eine zu bewältigende Distanz. Hauptsache ich werfe in Richtung Jesus. Ich bin sicher, er kann ziemlich gut fangen (und kommt mir notfalls auch ein paar Schritte entgegen).

Seit Erntedank übe ich mich auch mehr im Danken. „Danken schützt vor Wanken“ sagt man ja auch. Und um beim Bild des Zoos zu bleiben: Alle Dinge, für die ich von Herzen dankbar bin, sind stolze Adler, die die nervigen Sorgengeier, die um meinen Kopf schwirren und sich anschicken dort ihre Nester zu bauen, vertreiben. Ich möchte lernen, mich mehr über all das zu freuen, was Gott mir schenkt. Und meinen Blick immer häufiger auf diesen reichen Gabentisch zu lenken – da liegen so tolle Geschenke drauf: ein Mann, der mich liebt, eine fröhliche, gesunde, hübsche Tochter, zwei Studienabschlüsse, Freunde, eine gemütliche Wohnung, eine glückliche Kindheit und vieles mehr.
Da kann sich dann der Sorgenkugelfisch aufpusten wie er will, das seh‘ ich dann nämlich gar nicht…



Samstag, 18. Oktober 2014

Er ist wieder da!



Nicht nur am wachsenden Umfang meines Bauches merke ich, dass der Entbindungstermin näher rückt. Auch der sogenannte „Nestbautrieb“ ist aus seinem Schlaf erwacht und versetzt mich in Unruhe: Nur noch drei Monate und wir haben noch kein Bett für unser Kleines! Die Klamotten sind noch nicht sortiert, gewaschen und eingeräumt – wer weiß, was alles noch fehlt? Und wohin mit all dem zusätzlichen Zeug? Sollen wir uns einen Geschwisterkinderwagen anschaffen oder lieber einen Fahrradanhänger, den man als Doppelkinderwagen benutzen kann, oder kommen wir mit unserem bisherigen Modell plus Tragetuch aus? Räumen wir unsere Wohnung um oder schlafen wir in Zukunft zu viert in einem Raum? Tag für Tag nerve ich meinen Mann mit meinen Überlegungen, fordere Entscheidungen ein, die ich nach einmal drüber schlafen wieder verwerfe und schleiche rastlos von einem Raum in den nächsten. (Schatz, tut mir wirklich leid für dich, aber ich kann nicht anders. Ich glaube sogar, das muss so; das kennt man ja auch von Vogeleltern…)

Heute sind wir das Projekt „Schlafzimmer“ dann endlich angegangen: Wir haben uns endgültig entschieden, den Rest der Wohnung so zu lassen, wie er ist und nur das Arrangement im kleineren Zimmer zu verändern. Wir haben Noemis Bett und Schrank verschoben und genug Platz für ein weiteres Kinderbett geschaffen (welches wir dann ganz bald kaufen, nur Geduld!). Und ich habe ein Überbleibsel von der letzten Nestbautriebattacke herausgeholt und fertig gestellt – da war mir dann doch ein paar Tage vor Noemis Geburt die Puste ausgegangen… Jetzt hängen drei selbstgemalte Bilder mit (hoffentlich) einschläferndem Motiv über ihrem Bett und ich bin glücklich! Bis zum nächsten Schub jedenfalls…

Auch unsere Tochter scheint sich auf die Ankunft ihres Geschwisterchens vorzubereiten. Meine alte Babypuppe hat sie sofort adoptiert als unser „Baby“ und tut den ganzen Tag nichts anderes mehr als das „Baby“ herumzutragen, zu umarmen und sogar zu küssen. Ohne Worte!

Also, kleiner Bauchbewohner, du siehst: Wir bereiten alles vor. Bleib du ruhig noch ein paar Wochen in deinem gemütlichen Aquarium und wachse. Und dann, sei willkommen!

Der gute Hirte zählt seine Schäfchen...

Unser neues altes Schlafzimmer

Die werdende große Schwester

Mittwoch, 1. Oktober 2014

Schon mal an die Rente gedacht?



Seit heute ist Falko offiziell arbeitslos, beziehungsweise: arbeitsuchend. Das hat auch was Schönes: Als Noemi und ich vom PEKiP nach Hause kamen, war er schon da und kochte Gemüsesuppe. So ein Luxus – ich konnte mich hinsetzen und ausruhen, während das Essen „wie von selbst“ fertig wurde.
Manchmal aber wollen mich Sorgen und Zukunftsängste überwältigen, werden plötzlich monstergroß und ziemlich furchteinflößend. Generell versuche ich, derlei Gedanken nicht allzu viel Raum zu geben – denn was könnte denn schlimmstenfalls passieren? Wir werden schon nicht aus unserer Wohnung fliegen und verhungern erst recht nicht. (Vorübergehende) Arbeitslosigkeit und finanzielle Eingeschränktheit mögen unangenehm sein (erst mal keine neuen Bücher und Klamotten, kein Coffee-to-go, keine Restaurantbesuche oder Kinoabende…), sind aber zu bewältigen. Und tief in meinem Inneren bin ich außerdem davon überzeugt, dass Falko schon bald hier in Berlin eine neue Stelle antreten wird. Ja, alles wird gut. Irgendwann.

Manchmal brauche ich jemanden, der mich daran erinnert, dass mein Leben in Gottes Hand liegt. Und der mir wieder neu vor Augen führt, was für ein Leben ich eigentlich wirklich führen möchte.
Diese Person begegnete mir am Wochenende in Gestalt meines Schwagers. Also, wir sahen uns gar nicht, sprachen nicht einmal miteinander, aber mir wurde etwas über ihn erzählt. Nämlich, dass er sich bereits jetzt Gedanken um die Rente seiner Töchter macht. Die beiden sind wohlbemerkt drei und sechs Jahre alt, besuchen Kindergarten und Schule und haben hauptsächlich die eine Sorge, dass sie bis zur nächsten Reitstunde noch siebenmal schlafen müssen.
Falko und ich legen auch Geld für Noemi zurück, für ihr Studium (so sie denn studieren möchte) oder wozu sie es eben verwenden will, wenn sie 18 ist. Aber ihre Rente? Ich denke ja kaum an meine eigene (was viele Leute wahrscheinlich ziemlich unverantwortlich von mir finden), wie kann ich da an ihre denken? Was weiß denn ich, was in 65 bis 70 Jahren sein wird? Nein, darüber möchte ich mir noch gar nicht den Kopf zerbrechen, alles zu seiner Zeit. Für meinen Schwager allerdings sind das Themen, die er heute schon angeht. Geld, das er bereits jetzt investiert. Damit es seinen Kindern an nichts fehlt, auch nicht dann, wenn er selbst schon längst nicht mehr lebt. Er findet das vernünftig und verantwortungsvoll. Ich kann nicht anders, als an den reichen „Narr“ zu denken, von dem Jesus in Lukas 12 erzählt.

Für mich war das irgendwie wichtig zu hören und zu bedenken, eine gute Erinnerung daran, wie ich leben möchte – und wie nicht. Mir wurde neu bewusst, dass Geld und materielle Sicherheit nicht die Dinge sind, nach denen ich (primär und in meinen reflektierten Momenten) strebe.
Und das möchte ich auch an meine Kinder weitergeben. Denn es gibt sehr viel Wichtigeres zu vererben als Geld oder Bausparbriefe oder Immobilien. Schöne Erlebnisse, Geborgenheit, Weisheit, Gottvertrauen, Selbstständigkeit, bedingungslose Liebe… zum Beispiel. Dahinein möchte ich investieren. Und das können wir uns auch leisten in Zeiten von Arbeitslosigkeit.
Außerdem finde ich, dass Noemi ihr Leben (und damit auch ihre Finanzen) selbst in die Hand nehmen muss. Wir können nicht alles für sie vordenken und vorausplanen, wir können ihre Zukunftsängste nicht wegnehmen, sie nicht vor allen Eventualitäten beschützen. Wir können ihr das Werkzeug geben, welches sie braucht, um im Leben zu bestehen. Und sie selbst und ihre Zukunft in Gottes verantwortungsvolle Hände legen. Gott sei Dank können wir das!
Ganz besonders, weil mir klar ist, dass unseren Kindern sehr viel Schlimmeres zustoßen kann als materielle Armut. Klar, arm sein ist nicht schön und auch nicht leicht. Aber fataler fände ich einen brutalen Ehemann, unheilbares Siechtum, psychische Probleme, okkulte Verstrickungen oder ihre völlige Abwendung von Jesus.

Und ich hatte einen Gedankenblitz: Gerade erleben wir genau die Situation, die ich theoretisch erstrebenswert finde, nämlich die totale Abhängigkeit von Gott. Wir befinden uns in einer Phase voller Unsicherheiten, oft fühlen wir uns als stocherten wir mit langen Stangen im Nebel herum – wir wissen nicht, wo und wie und wovon wir in Zukunft leben werden. Aber GOTT weiß es, und das sollte mir reichen. Weil es genug ist. Weil das das Leben ist, das ich mir wünsche. Auch für die Zukunft. Natürlich möchte ich gern eine größere Wohnung (mal ehrlich, zu viert in zwei Zimmern ist es auf Dauer doch beengt....) und gegen eine Spülmaschine habe ich auch nichts mehr einzuwenden (und Falko starrte neulich mal auf eine Design-Waschmaschine für 2000Euro). Aber es geht nicht um immer mehr und immer toller. Das ist nicht unbedingt mein Verständnis von Lebensqualität. Falko sieht das glücklicherweise genauso. Uns beiden ist es wichtiger, einmal im Jahr in den Urlaub zu fahren, als ein eigenes Auto zu besitzen. Zum Beispiel.
Ich wünsche mir für die Zukunft, dass Falko sein neuer Job gefällt und wir davon leben können, ungefähr so, wie wir es bisher auch konnten. Dass aber auch Zeit bleibt für uns, die Familie, unsere Freunde, die Gemeinde, für Gäste und für Menschen, die uns brauchen. Dass unser Haus (bzw. unsere Wohnung…) ein Ort ist, an dem sich Menschen wohlfühlen, an dem echte Begegnung stattfindet, an dem wir Gemeinschaft üben und leben. Dass unsere Kinder sich in Freiheit und Geborgenheit entfalten können, Jesus lieben lernen und auch ihre Mitmenschen, dass sie für ihre Überzeugungen mutig einstehen. Dass ich meine „Berufung“ finde – einen Weg, meine Gaben einzubringen und auszubauen und vielleicht sogar davon zu leben. Dass wir reisen und neue Dinge ausprobieren, immer wieder, vielleicht einmal den Schritt ins Ausland wagen, ins Ungewisse, Spannende, Verrückte. Dass unsere Liebe reift und mit uns wächst, in die Tiefe und die Breite und die Höhe, dass wir uns immer wieder neu entdecken und uns doch so sehr vertraut bleiben.
Dass wir auch in der Erkenntnis Gottes wachsen, in der Liebe zu Ihm und unseren Mitmenschen, und dass diese Liebe nicht nur ein Lippenprodukt ist, sondern tätig wird, sichtbar und erlebbar.
Das soll mein Leben sein.
Über die Rente denke ich dann später mal nach.