Letzte Woche saßen
meine Freundin Bettina und ich beim Äthiopier und teilten das Brot und unseren
Frust. Ich hatte anstrengende Tage voller Kindergeschrei hinter mir und haderte
zum x-ten Mal mit meinem Alltag, wie er nun einmal gerade ist. Bettina ging es
ähnlich an ihrem Arbeitsplatz mit all den Routineaufgaben und den Dingen, die
sich nicht ändern (lassen).
Als wir ein paar
Stunden später in die kühle Nachtluft traten und nach Hause fuhren, trug ich
einen Gedanken in meiner Tasche, einen neuen, tröstlichen. Bettina hatte ihn
mir gereicht: Den Gedanken an Jesus, der dreißig Jahre lang – den Großteil
seines Lebens auf der Erde wohlbemerkt – unspektakulär in Nazareth gelebt
hat. Ganz ohne Wunder und Starallüren. Dafür mit Dreck, Alltagsstumpfsinn und
Arbeit. Ein Mensch ganz wie wir.
Dieser Gedanke steckt
noch immer in meiner Tasche. Immer wieder fühle ich, ob er noch da ist.
Manchmal nehme ich ihn auch heraus und betrachte ihn.
Das Ergebnis einer
solchen Betrachtung ist der folgende Text.
Nazarethjahre
(Für Bettina)
Auf einem großen Stein im Schatten eines Baumes sehe ich ihn
sitzen. Er sitzt lange dort, regungslos. Es ist auch viel zu heiß, um
irgendetwas zu tun. Weit und breit ist kein anderer Mensch zu sehen, alle
Dorfbewohner ruhen in ihren Häusern oder sonstwo im Schatten. Also gehe ich zu
ihm hin und setze mich neben ihn auf einen Baumstumpf. Er lächelt und nickt mir
zu.
Ich betrachte seine Hände. Arbeitshände. Braun und rau und
stark. Und doch irgendwie sanft, wie sie auf seinen Unterarmen ruhen. Ich kann
mir vorstellen, dass diese Hände die Kraft und die Sanftheit haben, um Kranke
heilend zu berühren. Dann denke ich daran, dass diese Hände schon bald von
Nägeln durchbohrt werden. Der Gedanke erschreckt mich und ich werfe einen
schnellen Blick auf sein Gesicht. Schließlich kann er Gedanken lesen. Aber er blickt
noch immer auf den felsigen Boden, lächelnd. Seine Hände. Zimmermannshände. Er
bearbeitet Holz mit seinen Händen, er baut Häuser und Tische und was-weiß-ich
mit seinen Händen. Mit diesen Händen, die Stürme stillen, Dämonen austreiben,
Krankheiten besiegen können.
Und er sitzt hier unter einem Baum, in einem völlig
unbedeutenden Kaff. Während um uns herum der Sturm tobt, während Menschen
hoffnungslos sind, während sie leiden, bangen, zweifeln, sterben. Während sie
auf ihre Erlösung warten. Sitzt die Erlösung hier und starrt Löcher in die
Luft. Seelenruhig.
Ich rutsche auf meinem Baumstumpf hin und her. Es ist heiß,
viel zu heiß, auch nur zum Sprechen, aber das lässt mir keine Ruhe. Dass seine
Erlöserhände Holz hobeln. Dass seine Liebesaugen ins Leere schauen. Dass seine
Wunderkraft beim Häuserbau vergeudet wird.
Er grinst vor sich hin. Sicher, er kennt meine Gedanken.
Ich weiß, er wird antworten, auf meine ungestellten Fragen.
Aber er lässt sich Zeit.
„Ich bin ein Mensch“, sagt er schließlich. „Ein Mensch ganz
wie du. Ein Mensch wie alle hier im Ort. Das ist meine Bestimmung, darum bin
ich hier.“ Dann ist wieder Schweigen zwischen uns. Seine Worte haben mich
bewegt. Welche Demut aus ihnen spricht. Immerhin ist er doch viel mehr als ein
Mensch wie ich. Er ist Gott, der sich
– für den Moment – mit Routinearbeiten begnügt, der Langeweile, Hitze, Staub
und Alltagstrott erträgt. Der die Macht, die er hat, und all die Möglichkeiten
seiner Gottheit, ablegt und selbst die Axt schwingt. Weil er eben ganz Mensch
ist. Und wir Menschen müssen nun einmal mit Alltag, Stumpfsinn und Schweiß
leben.
Aber ich bin noch nicht ganz zufrieden. Seine Bestimmung ist
doch noch eine viel größere, geht es denn nicht um viel mehr als nur darum, ein
Mensch zu sein? Er hat doch eine Botschaft, eine Mission – es geht um nichts
Geringeres als die Rettung der gesamten Menschheit!
„Du hast natürlich Recht“, sagt er in die Stille hinein. „Meine
Bestimmung geht weit über Nazareth hinaus. Die Menschen werden erfahren müssen,
wer ich bin. Überall. Wenn der Tag für mich gekommen ist (und ich weiß, es ist
schon bald soweit), bin ich bereit zu gehen. Dann wird es nicht mehr lange
dauern und ich werde das Ziel meiner Mission erfüllen. Mit durchbohrten Händen.
Aber eben noch nicht jetzt.“ Er weiß, dass mir sein „noch nicht“ schwer fällt.
Dass ich ungeduldig bin. Dass ich Großes sehen möchte.
Aber er hat viel Geduld mit mir. Er nimmt sich Zeit, möchte,
dass ich verstehe.
„Für euch zählt nur das Spektakuläre, das Große, das
Wunderbare. Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen, die Auferstehung – das ist
es, was in euren Augen zu einem Gott passt. Du findest es nicht angemessen,
dass ich hier auf einem Stein sitze, dass ich abends für meine Freunde koche,
dass ich meiner Mutter helfe. Und doch gehört all das zu meiner Mission, ist
Teil meiner Bestimmung. Wenn ich später davon sprechen werde, dass der Größte
unter euch euer aller Diener sein muss, dann habe ich es mir selbst nicht
leicht gemacht. Ich habe es wirklich gelebt. Wenn ich sage, dass ihr euch
zuerst im Geringen als treu erweisen müsst, dann weiß ich, wovon ich rede. Wenn
ich meinen Jüngern die Füße waschen werde, warum nicht schon jetzt die Füße
meines Vaters?“
Ich beginne zu verstehen. Er beeindruckt mich mit seiner
Haltung, eigentlich mehr noch als mit seinen Wundertaten.
„Außerdem“, fährt Jesus fort „ist mir aufgefallen, dass ihr
gern zwischen ‚Heiligem‘ und ‚Alltäglichem‘ trennt. Die Schrift zu rezitieren,
ist etwas ‚heiliges‘, während ihr es als ‚profan‘ abtun würdet, die Wäsche zu
waschen oder ein Kind zu stillen.“ Ich nicke, aber er redet schon weiter: „Dabei
dreht sich ‚Heiligkeit‘ oder ‚Heiligung‘ nicht darum, sich abzusondern oder
bestimmte religiöse Handlungen zu vollziehen. Vielmehr ist Heiligkeit ein
Beziehungsbegriff: Es geht um die Beziehung zu mir, darum, mir nachzufolgen und
in enger Verbindung mit mir zu leben.“
Ich spinne seine Gedankenfäden weiter: Dann kann auch mein
Alltagstrott „heilig“ sein, das unliebsame Kloputzen, der nie endende Kampf
gegen den Staub, das Trösten eines weinenden Kindes in der Nacht. Wenn ich es
in Beziehung zu Jesus setze, es aus Liebe zu ihm tue, seinem Beispiel nacheifere
– dann bin ich ganz in meiner Bestimmung. Der Alltag, mein Alltag ist heilig, weil Jesus ihn geheiligt hat.
Er lächelt, als er meine leuchtenden Augen sieht.
Dann erhebt er sich von seinem Stein.
„Es gibt noch viel zu tun auf Levis Baustelle“, sagt er und
tritt ins gleißende Sonnenlicht.
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