Zu unserer Rechten wohnt eine junge Frau namens Melanie W.;
vor fast zwei Jahren ist sie von München nach Berlin gezogen, aus beruflichen
Gründen, wie sie uns berichtete. Und so leben wir seitdem Wand an Wand. Wir
brachten ihr Kuchen vorbei, sie war sympathisch obwohl gefährlich attraktiv mit
ihren Rehaugen und langen Beinen (wobei, meiner Meinung nach, ihre
Attraktivität etwas geschmälert wird durch ihr auffälliges alveolar gerolltes
R), und man unterhielt sich ab und zu im Treppenhaus. Zu Noemis Geburt bekamen
wir von ihr ein Geschenk, obwohl wir uns ja kaum kannten, danach sahen wir uns
irgendwie seltener.
Falko, der viel Wert auf gute nachbarschaftliche Beziehungen
legt, machte vor einigen Monaten den Vorschlag, sich doch mal auf Kaffee und
Kuchen zu treffen – eine Idee, die auch Melanie zuzusagen schien („Oh ja gern!“
+ Lächeln + Augenkontakt = ehrliche Freude?). Wir verabredeten uns für den
folgenden Sonntagnachmittag. Sie wollte backen, wir sollten dann einfach
klingeln.
Der Sonntagnachmittag kam, wir klingelten (in leiser
Vorfreude auf feines Gebäck, vielleicht eine Münchner Spezialität?), und
warteten. Klingelten noch einmal, horchten an der Tür. Nichts. Dann gingen wir
zurück in unsere Wohnung, etwas ratlos, und später spazieren, es war uns zu
dumm.
Irgendwann begegneten wir uns wieder im Treppenhaus, beide
Seiten verloren kein Wort über den Vorfall, grüßten und lächelten nur
freundlich (wir vielleicht auch leicht irritiert). Sie wird uns wohl einfach
vergessen haben, sowas kommt ja vor, dass man einen Termin verschwitzt.
Vor ein paar Tagen nun startete mein Mann, kontaktfreudig
und kuchenaffin wie er ist, einen zweiten Versuch. Melanie reagierte erneut
positiv („Oh ja, sehr gerne!“ + Lächeln + Augenkontakt), schlug wieder
Sonntagnachmittag gegen 15 Uhr bei ihr vor, ja, sie würde etwas backen (yes!). Schön.
Sonntagnachmittag kam, wir keuchten nach dem Gottesdienst
die Treppe hoch und waren gerade dabei, das Kind aus seiner Jacke zu befreien,
als unsere Nachbarin klopfte und sich entschuldigte. Sie müssten noch eine
Freundin vom Flughafen abholen, es würde wohl später werden. Wir glaubten nicht
mehr recht daran, dass wir ihren „frisch gebackenen Kuchen“ würden kosten
dürfen. Falko fuhr Kuchen holen. Und wir verschoben das nachbarschaftliche
Treffen auf den nächsten Tag, Montagabend, vielleicht hätten wir da ja mehr
Glück. Ja, wir bringen gern einen Salat mit. Und Kuchen hätte sie sowieso noch
da.
Montag, kurz nach 18 Uhr, die ganze Familie kommt vom
Wocheneinkauf zurück. Jetzt aber schnell, in einer halben Stunde sind wir
verabredet (ach, wie naiv!). Auf der Treppe kommt uns Melanie entgegen. Sie
müsse noch schnell einkaufen fahren, ob es in Ordnung wäre, unser Treffen auf
halb acht, acht zu verschieben. Aber natürlich, uns ist alles recht, solange
wir was zwischen die Zähne kriegen. Sie fragt noch, ob wir irgendwelche
Vorlieben oder Unverträglichkeiten haben, worauf Falko sie auf meinen Babybauch
aufmerksam macht. Sie gratuliert herzlich und macht sich auf den Weg. Ich
wundere mich noch, dass sie gar keine Einkaufstaschen oder so dabei hat,
eigentlich gar nichts außer Schlüssel und Smartphone (ach, sie wird Geld und
Taschen im Auto haben).
Oben angekommen verstauen wir unsere Einkäufe, füttern Noemi
und bereiten den Salat vor. Währenddessen lauschen wir, die Ohren gespitzt, ob
wir ihren Schlüssel im Schlüsselloch hören können. Nichts. Es ist halb acht,
sie ist noch nicht zurück. Wir unken ein bisschen herum, wie lange sie denn zum
Einkaufen bräuchte, sie hätte ja nicht mal ein schreiendes Kind samt sperrigem
Kinderwagen dabei… Wir entschließen uns,
Noemi bettfertig zu machen und dann schlafen zu legen. Können ja dann das
Babyfon mit nach nebenan nehmen und ab und zu nach dem Kind sehen.
Zähnchen putzen, Lied singen, Luthers Abendgebet, gute
Nacht. Ruhe im Schlafzimmer – ebenso wie im Hausflur. Melanie ist noch immer
nicht zurück. Wir warten und fühlen uns ganz merkwürdig.
Ob ihr was zugestoßen ist? Ein Autounfall vielleicht?
Eigentlich nicht so wahrscheinlich. Mir erscheint es logisch, dass sie einfach
keine Lust auf uns hat – aber warum dann das ganze Theater mit der Einladung,
dem Kuchen, der Frage nach Lebensmittelallergien?
Wir sitzen im Wohnzimmer, mit inzwischen knurrenden Mägen,
und spinnen Hypothesen: Ob sie einfach nur total verschusselt und verplant ist
und jetzt seit zwei Stunden in ihrem Auto sitzt, sich fragend, wohin sie gleich
wollte? (So kommt sie uns eigentlich gar nicht vor) Oder liegt eine psychische
Erkrankung vor, eine Art Gäste-Phobie, eine multiple Persönlichkeit oder einfach
nur Angst vor Keimen, die wir ihr in die Wohnung schleppen könnten? (Das würde
man aber doch irgendwie bemerken, oder?) Vielleicht wurde sie unterwegs
entführt? Oder hat ihren Traummann getroffen, bei Rewe an der Kasse.
Möglicherweise sind wir Teil einer psychologischen oder
sozialwissenschaftlichen Studie, unsere Wohnung wurde von ihr komplett verwanzt
und sie beobachtet nun unsere Reaktion auf ihr von der Norm abweichendes
Verhalten. Es wäre auch möglich, dass sie in Wirklichkeit ein Alien ist, oder
zumindest von einem Alienparasiten befallen. Sie könnte eine Geheimagentin sein
(dafür spricht, dass ihr Name nicht auf dem Klingelschild steht….). Ist sie
vielleicht eine Edelprostituierte, die überraschend von einem Stammkunden
gebucht wurde? Oder einfach nur eine Psychopathin, der es Spaß macht, Leute zu
verwirren?
Wir überlegen, ob wir sie zu sehr bedrängt oder gar mit
unserem Verhalten (mit welchem genau?) verletzt haben könnten. Vielleicht hat
sie gerade eine Trennung hinter sich, steckt voll im Liebeskummer und würde
einen Abend zusammen mit einer glücklichen Familie nicht überstehen. Oder sie
hat just an dem Tag erfahren, dass sie keine Kinder bekommen kann, eine
medizinische Unmöglichkeit, und da bin ich, mit Babybauch… Hat sie sich bei
Aldi zwischen den Regalen verlaufen und findet den Ausgang nicht mehr (es ist jetzt
schon nach 20 Uhr, dann hätte man sie dort eingeschlossen und sie muss die Nacht
zwischen Sauerkraut und Thunfischdosen verbringen). Könnte sie nicht von einem
schwarzen Loch verschluckt worden sein, ausversehen die Tür zu einem
Paralleluniversum geöffnet haben, hängt sie in einer Zeitschleife fest (à la:
Und täglich grüßt das Murmeltier) oder wurde einfach von Außerirdischen
entführt? Hat eventuell die Entrückung stattgefunden und wir wurden
ZURÜCKGELASSEN?!?!?! Ist sie in einen offenen Gully gefallen? Hat sie durch den
Zusammenprall mit einem Laternenmast ihr Gedächtnis verloren und weiß nun weder
ihren Namen noch von unserer Verabredung? Liegt ihre Mutter in München im
Sterben und sie musste sofort dorthin – da wir keine Telefonnummern
ausgetauscht haben, kann sie uns nicht erreichen und absagen. Eine Havarie auf
der Arbeit, und sie ist unabkömmlich? Ist sie womöglich Catwoman oder eine
andere Superheldin und muss gerade unsere Erde vor der ultimativen Katastrophe
retten? Oder sie ist tot, skelettiert bereits irgendwo vor sich hin, wie Falko
vermutet.
Wie auch immer, ich habe Hunger. Acht Uhr ist lange vorbei.
Wir schreiben ihr einen Zettel, dass wir etwas verwirrt sind und den Salat
jetzt selber essen, und kleben ihn an ihre Wohnungstür. Die Mitbringselpflanze
stellen wir dazu. Da wir den Salat ja schon vor über einer Stunde gemacht
haben, ist das Abendessen schnell vorbereitet, wenigstens etwas.
Als wir gegen 22 Uhr ins Bett gehen (wir werden alt), sind
Zettel und Pflanze noch unberührt, auch am nächsten Morgen. Wir überlegen, ab
wann wir sie bei der Polizei als vermisst melden sollten, einfach um uns später
keine Vorwürfe machen zu müssen, wenn Beamte die Nachbarn befragen…
Wir sitzen beim Frühstück und können uns einfach keinen Reim
darauf machen. Zwischendurch springen wir auf und linsen durch den Türspion,
aber es war nur der linke Nachbar, der sich auf den Weg zur Arbeit macht. Jetzt
schnüffeln wir schon unbescholtenen Bürgern hinterher, so weit ist es mit uns schon
gekommen!
Epilog:
Dieser Text wäre natürlich noch besser, wenn ich am Ende
eine Lösung präsentieren würde, bei der sich jeder an den Kopf fasst und sich
denkt: Warum seid ihr nicht gleich darauf gekommen?!
Das kann ich allerdings nicht. Zettel und Pflanze sind
inzwischen verschwunden, wir müssen also nicht die Polizei einschalten (wobei,
es könnte ja auch ihr Entführer gewesen sein, der mit ihrem Schlüssel in ihre
Wohnung eingedrungen ist und mit dem Entfernen von Zettel und Pflanze den
Anschein von Normalität wahren möchte….). Es ist und bleibt merkwürdig, oder?
Weitere Hypothesen dürfen gern eingereicht werden.
Epilog 2 (eine Woche später):
Gestern begegneten Falko und Noemi unserer Nachbarin völlig unverhofft im Supermarkt. Und es war sogar Melanie selbst, die die beiden ansprach (wie immer total offen und lächelnd). Es täte ihr sehr leid wegen letzter Woche. Während sie noch für unser gemeinsames Abendessen einkaufte, erreichte sie ein Anruf ihrer Mutter mit einer sehr schlechten Nachricht, die sie so beunruhigt habe, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen sei, sich mit uns zu treffen. Sie habe die Nacht bei einer Freundin verbracht, uns aber ja leider nicht kontaktieren können. Und natürlich habe sie Lust, sich mit uns zu verabreden!
Wir sind geneigt, ihr diese Geschichte zu glauben. Falkos Handynummer hat sie jetzt. Vielleicht werden wir uns tatsächlich eines schönen Tages in ihrem Wohnzimmer vorfinden, bei Kaffee und Kuchen. Wahrscheinlich ist das aber nicht...
Epilog 2 (eine Woche später):
Gestern begegneten Falko und Noemi unserer Nachbarin völlig unverhofft im Supermarkt. Und es war sogar Melanie selbst, die die beiden ansprach (wie immer total offen und lächelnd). Es täte ihr sehr leid wegen letzter Woche. Während sie noch für unser gemeinsames Abendessen einkaufte, erreichte sie ein Anruf ihrer Mutter mit einer sehr schlechten Nachricht, die sie so beunruhigt habe, dass sie nicht mehr in der Lage gewesen sei, sich mit uns zu treffen. Sie habe die Nacht bei einer Freundin verbracht, uns aber ja leider nicht kontaktieren können. Und natürlich habe sie Lust, sich mit uns zu verabreden!
Wir sind geneigt, ihr diese Geschichte zu glauben. Falkos Handynummer hat sie jetzt. Vielleicht werden wir uns tatsächlich eines schönen Tages in ihrem Wohnzimmer vorfinden, bei Kaffee und Kuchen. Wahrscheinlich ist das aber nicht...
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