Stadtmensch sucht Dorf!
Um ein Kind großzuziehen, braucht
es bekanntlich ein ganzes Dorf. Aber wenn ich in der Stadt lebe, mit so viel
mehr Menschen um mich herum, müsste das nicht sogar besser sein?
Ich habe in meinem bisherigen
Leben mehrere Jahre auf dem Dorf verbracht und hege nicht sonderlich
romantische Gefühle für das Landleben – momentan gefällt es mir und uns in
Berlin sehr gut, und ich bin (jedenfalls in diesem Stadium meines Seins) eher
ein Stadtmensch.
Trotzdem denke ich seit einiger
Zeit viel an dieses berühmte Sprichwort – ja, eigentlich seit ich Mama bin!
Momentan ist das Thema „Wir
brauchen ein Dorf!“ ziemlich präsent – und problematisch für mich. Nur ein
Beispiel: Mein Mann und ich wollten am vergangenen Adventssamstag für ein paar
Stunden zu zweit einkaufen gehen, Geschenke für die Kinder shoppen und ein paar
andere Dinge, mal ein bisschen Zeit zu zweit genießen. Eine Babysitterin war,
oh Wunder, schnell gefunden. Leider
wurde sie dann krank, tja, das kommt vor, und dann fing die Sucherei nach einem
Ersatz an…
Und da merkten wir es wieder: Wir
haben keine Großeltern in der Stadt, die ihre Enkel gern und spontan betreuen
würden. Außer meiner Schwester haben wir hier überhaupt keine Verwandten.
Unsere Freunde und Bekannten haben entweder selbst kleine Kinder oder sind
anderweitig stark eingespannt. Besonders
in der Weihnachtszeit – da jagt ein Termin den nächsten und alle sind ziemlich
gestresst und haben einfach keine Kapazitäten mehr.
An sich haben wir einige Leute,
die wir als Babysitter anfragen können, besonders unsere Teenie-Mädels aus der
Gemeinde sind uns da oft eine große Hilfe. Und trotzdem gibt es sehr oft
Schwierigkeiten, jemanden für unsere Kinder zu finden – besonders spontan geht
gar nicht. Ich muss eigentlich immer
mehrere Personen anfragen, bis ich jemanden gefunden habe.
Manchmal mag ich auch schon gar
nicht mehr fragen, weil ich (gefühlt) den Leuten hinterherrenne… und dabei
handelt es sich nur um ein paar Stunden, vielleicht alle zwei, drei Monate!
Auf der einen Seite verstehe ich
das natürlich: Jeder lebt sein eigenes Leben und hat seine eigenen Dinge zu
tun. Dazu hat jeder das Recht und wir machen es ja auch nicht anders. Außerdem
weiß ich, dass fast alle Menschen, mit denen wir zu tun haben, sich
ehrenamtlich engagieren und viel im Einsatz für andere sind!
Und, klar, es sind unsere Kinder
und damit haben wir die Verantwortung für sie und können nicht von anderen
„erwarten“, dass sie uns die Kinder abnehmen.
Andererseits macht mich diese
Situation schon stutzig – und manchmal auch wütend. Was ist das für eine
Gesellschaft, in der wir leben und in die unsere Kinder hineingeboren wurden –
eine Gesellschaft, in der Kinder ausschließlich Sache ihrer Eltern (und
vielleicht noch der Kita) sind…
Ich habe den Eindruck, dass viele
sich ihr Leben so voll packen, dass kein Raum mehr bleibt. Dass wir oft so fern
voneinander sind…
Kein Wunder, dass junge Frauen es
sich heutzutage zweimal überlegen, ob sie wirklich ein Kind bekommen möchten.
Sie befürchten – und das ja wohl leider zurecht! – dass sie durch ein Kind ins
Abseits gedrängt werden, dass sie nicht mehr gleichberechtigt am
gesellschaftlichen Leben teilhaben können, dass sie vereinsamen. Diese
Erfahrung mache ich gerade in gewisser Weise.
Ich bin eigentlich immer für meine
Kinder da und brauche wirklich nicht oft jemanden, der sie mal für mich
betreut. Aber wenn dieser Fall eintritt, fühle ich mich manchmal, als wären die
Kinder an mir festgekettet und ich hätte keine Möglichkeit, mich kurz (!) von
ihnen zu lösen. Als wären die Kinder eine negative Ladung, die von allen anderen
automatisch abgestoßen wird… Als wären die Kinder ganz allein meine Sache und
nicht eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Alle haben schrecklich viel zu tun und reden dauernd darüber, wie sie
entschleunigen und reduzieren und was-weiß-ich alles wollen… Oft frage ich
mich, was ich eigentlich falsch mache, dass es mir nicht so geht. Ob ich
eigentlich blöd bin oder faul, weil ich noch freie Kapazitäten habe. Nicht
unendlich viele, auch ich muss sie mir einteilen und darauf achten, dass ich
mir den Alltag nicht zu voll stopfe – aber ich bin zum Beispiel die einzige
Mutter in unserer Kita, die regelmäßig ein Kind, das nicht ihr eigenes ist, mit
abholt und betreut. Die einzige!
Bin ich eigentlich bescheuert?
Ja, gerade ärgert es mich
ziemlich, dass ich bereit bin, einer anderen Mutter Unterstützung zu schenken
und selbst niemanden zu haben, der
dasselbe für mich tut.
Meine Antwort lautet immer „Ja“,
wenn ich gebeten werde, besagtes Kind zu betreuen, auch wenn es für mich
umständlich ist. Die Antwort, die ich zu hören kriege, wenn ich um Hilfe
bittet, lautet meistens: „Muss ich erst mal schauen“ – wenn sie nicht gleich
„Nein“ heißt. (Und natürlich verstehe ich die Gründe. Alle haben immer sehr gute
Gründe…)
Möglicherweise klinge ich gerade
zynisch und bitter.
So fühle ich mich auch.
Aber vor allem: Müde.
Traurig. Allein.
Mir fehlt ein Dorf!
Und damit meine ich nicht primär
ein gut funktionierendes Kinder-Betreu-System.
Ich meine Menschen, mit denen wir
gemeinsam leben, für die wir da sind und sie für uns. Menschen, mit denen wir
teilen: Bohrmaschine, Plätzchenteig, Couch, Tränen, Feste – und auch unsere Kinder. Ja, wir teilen unsere Kinder gern: Unsere Kinder
lieben Babysitter und sind unheimlich
unkompliziert was „Fremdbetreuung“ angeht. Sie genießen es, mit
unterschiedlichen Leuten zusammen zu sein, und es tut ihnen einfach gut! Und
ihren Babysittern wiederum tut es auch gut, mit den Kindern zusammen zu sein.
Unsere Kinder brauchen auch Erwachsene
um sich, die nicht ihre Eltern sind – und Erwachsene brauchen die Gemeinschaft
mit Kindern.
Ein Dorf für uns - Menschen, die
einfach DA sind und wir mittendrin, weil wir alle dazugehören.
Menschen, die uns kennen, lang und
immer länger, und die bei uns bleiben.
Ältere Menschen, die unseren
Kindern Ersatz-Großeltern sind. Junge Menschen, die den Kindern Spielkameraden
und Freunde sind. Mittelalte Menschen, die für uns als Eltern Freunde und
Wegbegleiter sind. Und wir möchten all das auch für andere sein!
Ich weiß nicht, vielleicht sind um
mich herum ja Menschen, die mir ein „Dorf“ sein könnten oder sogar möchten –
und ich nehme sie nicht wahr? Schweife ich manchmal noch zu sehr in die Ferne,
anstatt das Gute, das Vorhandene direkt vor meinen Augen wahrzunehmen?
Vielleicht muss ich selbst noch
aktiver werden und mich noch mehr engagieren, das Signal aussenden: „Hey, ich
möchte Teil deines Dorfes sein! Ich bin für dich da!“
Ich weiß gerade nicht, wie das
konkret aussehen kann.
Aber mir ist klar, dass es auch an
mir, an UNS liegt, ob wir ein Dorf für uns finden oder nicht:
Wie gastfreundlich sind wir – steht unsere Tür wirklich immer offen für
diejenigen, die anklopfen? Wie hilfsbereit
sind wir – sind unsere Kapazitäten erschöpft oder passt es uns nur gerade nicht
in den Kram, dem Nachbarn beim Umzug zu helfen?
Wie ehrlich sind wir – dürfen unsere Nächsten auch unsere schwachen Seiten
sehen oder bemühen wir uns vor allem um den schönen Schein?
...
Und wie möchten wir in Zukunft leben? Jeder schön für sich in seinen eigenen vier Wänden - oder wagen wir eine Wohn-Gemeinschaft? Wir allein werden uns wohl nie ein Haus mit Garten leisten können, aber mit anderen zusammen könnte es gehen...
Um ein Dorf zu finden, müssen wir
zuerst anfangen, ein Dorf für andere zu sein.
Wir sind immerhin schon mal zu viert und haben Platz an unserem Esstisch, auf unserer Couch, und in unseren Herzen auch!
ich verstehe dich gut... Nicht selten haben mit die VollzeitArbeitenden Mummies ihre Kinder "aufgedrückt" und ich hatte aber niemanden, wenn ich mit Mandelentzündung im Bett lag
AntwortenLöschenDas ist so schade! Einerseits ist mir ja klar, dass ich als "stay-at-home-Mom" manches leichter habe als arbeitende Mamas, aber hin und wieder könnte ein bisschen Unterstützung schon sein - oder auch nur ein kleiner Plausch...
LöschenGanz lieber Gruß an dich!
ich habe keine Kinder, aber ich kann mich gut in dich reinversetzen. Meine Schwester ist Tagesmutter und meine alte Mutter und auch ich kommen in den Genuss dieser Kinder, es ist herrlich. Diese Kinder sind herrlich. Und genau diesen Spruch habe ich auch meiner Schwester gesagt, wie wahr, es braucht ein ganzes Dorf, um Kinder großzuziehen: Omas, Tanten... und alle haben einen großen Gewinn davon. Schade, dass es in der Anonymität unserer Gesellschaft nicht mehr so gut möglich ist. Wenn ich in der Nähe wohnen würde, würde ich gerne bei euch vorbeischauen, dich entlasten und mich an den Kids freuen :-)ich wünsche dir viel Erfolg auf der Suche nach dem Dorf
AntwortenLöschenDanke dir! Und ja - sie sind herrlich! <3
LöschenDas sind tolle Überlegungen, ich wünsche euch sehr, dass ihr euer Dorf findet. Genug Menschen habt ihr ja um euch herum in Berlin :) Bestimmt gibt es da Liebe Menschen, die sich auch mehr "Nähe" und "Vertrautheit" wünschen, denn wer tut das eigentlich nicht? Ich hab diese Woche so viel Ermutigung von älteren Frauen bekommen, die gesagt haben "Annika, Gott hat so viel in dich reingelegt. Wenn du dir etwas wünschst, weil es in deinem Herzen brennt, dann versuche alles, um diesen Wunsch umzusetzen!" Und diese ErMUTigung will ich dir auch zusprechen! :)
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