Donnerstag, 26. Januar 2017

Hochsensibel beim Elternabend





Schon länger hatte ich vor, einmal über Hochsensibilität zu schreiben, aber aus irgendwelchen Gründen kam es dann doch nie dazu. Dann kam der Elternabend, gestern. Ich verließ die Kita völlig aufgelöst und in Tränen, mit dem Gefühl „mir ist alles zu viel“, und ich wusste: Das liegt an meiner Hochsensibilität. Darüber muss ich schreiben.
Aber der Reihe nach:

Damit auch alleinerziehende Eltern am Elternabend teilnehmen können, wurde dieser auf eine für mich schwierige Zeit gelegt: von 16-18 Uhr, mit paralleler „Notbetreuung“ für einzelne Kinder. Da mein Liebster normalerweise erst um 17 Uhr nach Hause kommt und ich ansonsten niemanden habe, der mir die Kinder am Nachmittag abnehmen könnte, entschloss ich mich, eben erst später zum Elternabend dazuzustoßen – da die „Notbetreuung“ nicht unbedingt für meine Kinder gedacht war. Als ich um 15 Uhr meine Tochter abholen kam, fügte es sich, dass meine beiden doch in die Notbetreuung gehen können (spontane Planänderung: schwierig….). So überbrückte ich eben noch eine Stunde bis zum Beginn des Elternabends mit Kinderbetreuung: Der Azubi und ich kümmerten uns um alle noch in der Kita verbliebenen Kinder, während die Erzieherinnen den Elternabend vorbereiteten.

Während ich noch mitten im Chaos saß, fühlte ich mich ganz ok. Mit fünf Kindern ein Buch anschauen, kleine Streitigkeiten schlichten, Rotznasen abwischen, Kunststücke bewundern – es ging irgendwie. Nur der Lärmpegel setzte mir etwas zu…
Eins der vier Kriterien für eine vorliegende Hochsensibilität ist eine stark ausgeprägte individuelle Wahrnehmungsfähigkeit. Bei mir ist es (unter anderem) so, dass ich stark auf Geräusche beziehungsweise Lärm reagiere und da nicht viel abkann. Eine Stunde mit zehn lärmenden Kindern auf engstem Raum – nicht gut.

Ich war froh, als die Uhr zur vierten Stunde schlug und ich die Kinder beim Azubi zurücklassen konnte, um mich mit „Erwachsenendingen“ zu beschäftigen. Allerdings hatte ich die Rechnung ohne meine Tochter gemacht, die partout nicht in der Notbetreuung bleiben wollte. Sie ist zur Zeit der Meinung, schon „fast erwachsen“ zu sein – leider verhält sie sich nicht entsprechend, wenn ich ihr zu erklären versuche, dass sie das (mit dreieinhalb Jahren) mitnichten ist. Es gab also einen Riesenzirkus. Ich versuchte alles, zuerst lockend und versöhnlich, dann unnachgiebig und streng, der Azubi und eine weitere Erzieherin schalteten sich ein, und mir war das alles total peinlich. Alle anderen Eltern saßen schon da und warteten, und mein Kind machte nicht mit. Toll. Letztlich blieb sie dann doch in der Notbetreuung – beziehungsweise ich ließ sie tobend dort zurück und setzte mich innerlich bebend und voller Selbstzweifel auf meinen Platz.

Es folgte eine Stunde auf einem winzigen Kinderstuhl in einem zugleich stickigen und kalten Raum, vollgestopft mit Menschen. Wieder nicht gut. Ein zweites Kriterium für Hochsensibilität ist eine schmale Komfortzone. Mich störte in dieser Situation eigentlich alles: Das unbequeme Sitzen, die schlechte Luft, die Tatsache, dass ich fror, die permanente Geräuschkulisse, unterschiedliche Stimmungen – und dann noch das Gefühl, gerade als die totale Versager-Mutter dazustehen.

Die Kita-Leitung hatte eine Referentin zum Thema „Was trägt zur gesunden Entwicklung meines Kindes bei“ eingeladen. In kleinen Gruppen sollten wir uns darüber austauschen und die Faktoren, die uns einfielen, auf bunte Zettel schreiben. Am Ende hatten wir ein riesiges Tafelbild erstellt, voll von Dingen, die für eine gesunde Kindesentwicklung wichtig sind: Bewegung an der frischen Luft, Liebe, Partizipation, Individualität, Bücher, Spielen, Sicherheit, Traditionen, soziale Kontakte und so weiter. Die Referentin gab sich beeindruckt und die anwesenden Eltern klopften sich selbst auf die Schulter, was sie denn für Experten seien und wie sie alles richtig machen würden…

Ich dagegen hätte im Erdboden versinken können. In einem Moment kämpfte ich richtig mit den Tränen und überlegte, den Raum zu verlassen, weil mich das alles so unendlich überforderte. Nicht genug, dass ich mich gerade vollkommen jenseits meiner Komfortzone befand und einen Konflikt mit meiner Tochter hinter mir hatte – jetzt wurde ich auch noch erschlagen mit einer Menge an Erwartungen und Anforderungen, die ich – in meinen Augen – überhaupt nicht erfüllte! Mir wurde angst und bange.
Was die Theorie des Mini-Seminars anging, war ich absolut unterfordert. Es gab nichts, was ich Neues dazugelernt hätte, wohl kein Punkt, auf den ich nicht selbst gekommen wäre. Aber die Praxis! Ich fühlte mich meilenweit entfernt von dem auf der Tafel prangenden Ideal, mutterseelenallein und heillos überfordert. Wieder einmal war ich gefangen in dem Zwiespalt zwischen Langeweile und Überstimulation, den viele Hochsensible (und besonders viele hochsensible Mütter) empfinden.

Irgendwann war der erste Teil des Elternabends geschafft und wir trafen uns in einer kleineren Runde, um die Dinge zu besprechen, die die kleineren Kinder im Krippenbereich betrafen. Die Atmosphäre war zwar deutlich angenehmer, ich merkte aber doch immer deutlicher, dass ich bald hier raus musste. Mir wurde alles zu viel, ich konnte nicht mehr zuhören, fühlte mich nervös und fahrig und unsicher. Dies ist das dritte Kriterium für Hochsensibilität: Die Neigung zur Überstimulation. Und massiv überstimuliert fühlte ich mich nun schon seit zweieinhalb Stunden.

Damit war der Abend für mich aber noch nicht vorbei: In der Garderobe weigerte sich zuerst mein Kleiner, sich den Schneeanzug anziehen zu lassen. Diesen Kampf fechten wir in letzter Zeit mehrmals täglich miteinander aus und ich bin immer schon ein wenig nervös, wenn der Moment zum Rausgehen gekommen ist. Da ich sowieso schon vollkommen am Limit war, hatte ich weder Geduld noch Lust oder Zeit (denn ich wollte einfach nur nach Hause!), die ganze Sache spielerisch oder lustig mit ihm aufzuziehen. Ich biss die Zähne zusammen und stopfte ihn in seinen Schneeanzug, während er brüllte und sich mit ganzer Kraft wehrte. Die Garderobe war voll mit Erziehern, Eltern und Kindern, was alles nicht gerade zu meiner Entspannung beitrug… Dann fing auch noch meine Große (die sich eigentlich komplett alleine anziehen kann!) an, sie sei so durstig und wolle noch etwas trinken. Ich, wie gesagt, wollte dem ganzen Chaos so schnell wie möglich entfliehen, und bat sie, sich schnell anzuziehen und erst zu Hause etwas zu trinken – wir haben einen Fußweg von ca. 10 Minuten, das kann sie schon aushalten. Natürlich brach sie daraufhin sofort in Tränen aus, völlig unfähig, sich anzuziehen. Eine Erzieherin wollte sich erbarmen und ihr etwas zu trinken holen, was mir in dem Moment vorkam, als fiele sie mir in den Rücken.
Der Kleine brüllte im Hausflur, weil er sich in den Kinderwagen setzen wollte, und jeder hatte irgendeinen Kommentar für mich übrig – von wegen, die Kinder sind jetzt eben müde oder was-weiß-ich. Das half mir überhaupt nicht weiter, setzte mich (im Gegenteil) noch mehr unter Druck.
(Warum haben in solchen Situationen eigentlich immer alle Verständnis für die Kinder, anstatt der Mutter beizustehen? Ich wünsche mir so sehr, dass einfach mal jemand sagt: "Ich verstehe so gut, dass dich das gerade stresst!" Das würde es für mich leichter machen.) 

Also alles zu viel.
Die Kinder waren endlich ruhig, aber ich heulte Rotz und Wasser, bis wir endlich zu Hause angekommen waren. 

Das mache ich auch nie wieder.

Aktuell durchlebe ich das vierte Kriterium für Hochsensibilität: Das lange Nachhallen. In Gedanken spiele ich den gestrigen Nachmittag wieder und wieder durch, frage mich, was ich anders hätte machen können, was die anderen Eltern und vor allem die Erzieher von mir denken, ob ich meinen Kinder einen seelischen Schaden verursacht habe und wie ich all die Dinge umsetzen kann, die für die gesunde Entwicklung der Kinder so essentiell sind. Ich erlebe dieselben Szenen immer wieder – in meinem Kopf. Hätte ich Noemi zum Beispiel doch erlauben sollen, beim Elternabend dabei zu sein? 
Es gelingt mir nicht, längst vergangene Ereignisse, Worte oder Situationen abzuhaken, loszulassen. Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut an den Postboten, der sich vor Monaten (!) einmal beschwerte, ich sei nicht schnell genug an der Tür gewesen… ich komme nicht darüber hinweg und frage mich, ob ich vielleicht doch zu langsam war. Es ist verrückt.

Das war wirklich ein schwieriger Tag für mich, und ich werde einige Zeit brauchen, mich davon zu erholen.
Und doch weiß ich meine Gedanken, Handlungen und Gefühle mittlerweile besser einzuordnen. Ich muss nicht länger darüber nachgrübeln, was mit mir nicht stimmt. Ich  muss mich nicht mehr selbst beschimpfen oder für „nicht normal“ halten. Denn ich weiß: Ich bin nicht verrückt – sondern einfach nur hochsensibel.
Ich kann und werde lernen, damit umzugehen, immer ein bisschen besser.
Und: Es ist in Ordnung, dass ich so bin. Gott hat mich so gemacht, weil er mich so wollte.
Warum auch immer.






6 Kommentare:

  1. Liebe Reh. Du bist wertvoll. Und eine tolle Frau. Und geliebt, so wie du bist! Es ist unglaublich spannend für mich zu lesen. Gerne höre ich mehr zu Hochsensibilität. Das ist eine ganz neue Materie für mich. Love <3 anni

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    1. Danke dir, liebe Anni! Ja, ich denke, in der nächsten Zeit werde ich immer wieder mal über Hochsensibilität schreiben ;) Grüßle!

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  2. Ich finde es auch klasse, dass du so offen darüber schreibst, das hilft anderen damit umzugehen, sich vlt selbst genauso einzuordnen und im Endeffekt wsl dir selbst, um es zu verarbeiten. In vielen Lebensbereichen ist es das Beste, wenn wir Gott vertrauen, dass er größer ist als das, was wir vlt vermasseln (wenn du sagst du denkst deine Kinder könnten einen Schaden davon mitnehmen) - Gott kann so vieles wieder ganz machen, was wir unbeholfen beschädigt haben. Muss ich immer wieder drauf hoffen. <3
    Danke für den Hinweis, dass Eltern sich mehr Empathie für sich wünschen! Ich glaub oft soll so ein Kommentar, der die Kinder in Schutz nimmt, dazu dienen, dass die Eltern den Stress der Situation nicht auf sich selbst projizieren. Gar nicht so leicht da die richtigen Worte zu finden.
    Alles Liebe, Anne

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    1. Danke, liebe Anne, für deinen ermutigenden Kommentar! Ich bin sehr dankbar, dass Gott größer ist als alles, was ich falsch mache, und dass seine Gnade und Liebe allen Schaden wieder gut machen können.
      Wir haben selbst ja auch keine "perfekten" Eltern und werden doch groß, und erfahren Heilung an der eigenen Seele - das versuche ich mir immer wieder vor Augen zu halten.
      Ja, es ist nicht einfach, die richtigen Worte zu finden, besonders wenn sie an Hochsensible gerichtet werden. Denn ich tendiere dazu, Dinge überzuinterpretieren und dann ständig darüber nachzugrübeln, dabei hat mein Gegenüber sich wahrscheinlich gar nicht so viele Gedanken dazu gemacht...
      Es ist ein Lernprozess, mit der eigenen (hochsensiblen) Wahrnehmung umzugehen.
      Ganz liebe Grüße!

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  3. Oh Rebekka, ich habe grad deinen Text gelesen und kann so gut mit dir mitfühlen, ich kenne diese fünf Stadien so gut. Ich bin mega geräuschempfindlich, sehr schnell überstimuliert und kann manchmal (öfter) abends nicht einschlafen, weil ich vor Entsetzen über Dinge so angespannt bin, die ich hätte anders machen sollen.
    Ich danke dir, dass du so ehrlich davon erzählst, nichts beschönigst und doch mit Hoffnung in die Zukunft blicken kannst. Gott weiß wirklich, warum er uns so gemacht hat und darauf können wir vertrauen.
    Vielleicht hilft es deinen Kindern, wenn du ihnen erklärst, was in dir in so einer Situation vorgeht?
    Liebe Grüße von
    Friede

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  4. Hallo Rebekka, danke für diesen Post. Irgendwie hat es mir sehr gut getan zu lesen, dass es auch anderen Müttern so geht. Obwohl nicht all diese Kriterien im gleichen Mass auf mich zutreffen, gehöre ich auch zu dieser Gruppe und lerne, damit zu leben. Es ist ja auch eine Gabe! Deine Gefühle in dieser Situation konnte ich soo gut nachvollziehen, weil auch ich mich oft so gefühlt habe. Vielen Dank fürs Teilen. Herzliche Grüsse Sonja

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