Sechs junge Mädchen in einem Pick-up-Käfig, der sich rumpelnd und mit wachsender Geschwindigkeit vorwärts bewegt, so dass wir uns festhalten müssen, um nicht durcheinander geworfen zu werden. Trotzdem stoßen wir uns gelegentlich Kopf, Ellenbogen und Knie. Draußen braust die Landschaft vorbei, Bäume strecken ihre dornigen Finger nach uns aus, während sich der vergitterte Himmel von Minute zu Minute verdunkelt – es ist Abend. Einzelne Mücken schwirren um unsere Köpfe. Die Sonne versinkt hinter den Bergen, die wir mit dem Geländewagen erklimmen: Wir, das sind Martin und Pastor Nelson, die vorne sitzen, und wir sechs Mädchen hinten im Käfig: Regina, Miriam, Edna, Margaret, Beate und ich. Es ist unsere erste Fahrt dieser Art, Beate und ich sind erst seit wenigen Tagen in Kiserian, Kenia, und alles ist neu und ungewohnt und aufregend. Martin möchte den Jesusfilm in einem Dorf oben in den Bergen zeigen, und Beate und ich wollten natürlich unbedingt mitkommen.
Die vier anderen Mädchen hinten auf der vergitterten
Ladefläche kennen wir noch nicht, aber das macht nichts. Berührungsängste
hat keine von uns. Das laute Motorengeräusch sowie das Knirschen und Rumpeln
der Steine unter den Reifen machen die Unterhaltung nicht leicht, aber so
schreien wir uns eben freundlich an und lächeln darüber hinweg, dass wir kaum
ein Wort verstehen. Wie es denn so ist in Deutschland, wollen sie wissen – in
ihrer Vorstellung ist es dort immer furchtbar kalt, so kalt, dass sie selbst
dort nicht überleben könnten, und außerdem sind alle Menschen in Deutschland
reich. Völlig Unrecht haben sie damit jedenfalls nicht. Sie fragen auch, ob wir
schon verheiratet sind, schließlich trage ich einen verräterischen Ring am
linken Ringfinger; dort, wo in Kenia normalerweise der Ehering hingehört. Ich
lache und erzähle von meinem boyfriend,
nicht ahnend, dass dieses Wort hier eine etwas andere Bedeutung hat, aber wie
hätte ich ihre Frage sonst beantworten sollen? Beziehungen funktionieren eben
überall ein bisschen anders, und wie sie hier, in Baringo, funktionieren,
darüber weiß ich praktisch noch gar nichts. Die Mädchen lachen, tauschen
Blicke, und ich bin irritiert, aber dann stimmt Regina ein Lied an und ich
denke einfach nicht mehr darüber nach.
“Bring glory to Jesus, bring glory to Yahweh! I
love you, Jesus, you are my Savior!” Regina gibt als Vorsängerin den
Refrain vor, den wir anderen nachsingen, und dann wandelt sie die Strophen
immer neu ab, während wir fünf den Refrain zwischendurch ständig wiederholen.
Es sind wunderschöne Stimmen, so voll und laut, und es steckt so vieles in
ihnen, von dem wir noch nichts ahnen: so viel Freude, aber auch Schmerz, Stärke
und Stolz und Leben und Weiblichkeit… mit ihren Stimmen entführen uns die vier
in eine andere Welt, in ihre Welt, mit jeder Zeile kommen wir ein bisschen mehr
in Kiserian an. Beate und ich singen tapfer mit, aber die anderen Mädchen
übertönen uns völlig, worüber wir ganz dankbar sind – unsere Stimmen hören sich so viel dünner an…
Irgendwann erreichen wir das Dorf und klettern von der
Ladefläche. Es ist inzwischen dunkel geworden, die letzten Sonnenstrahlen
werden bald verschwunden sein. Martin nutzt das verbliebene Tageslicht, um die
Leinwand und den Projektor aufzubauen. Er spannt ein großes, weißes Laken
zwischen die Holzträger des Vordachs der kleinen Kirche. Das Laken flattert, es
ist windig, aber es hält. Der Filmprojektor steht hinten auf der Ladefläche des
Pick-ups. Alles ist vorbereitet.
Aber zuerst gibt es was zu essen: Jemand drückt Martin, Beate und mir jeweils einen Teller in
die Hand: Ugali und Sukuma wiki, festen Maisbrei und Gemüse
– für Beate und mich eine Prämiere. Wir
setzen uns auf große Holzscheite, inzwischen kann man kaum noch die Hand vor
Augen sehen, und lassen uns von Martin in die hohe Kunst des Ugali-essens einweihen. Zuallererst
wäscht man sich natürlich die Hände mit dem Wasser, das die Gastgeber einem
reichen. Dann bricht man mit den Fingern kleine Stücke des Ugalis ab, knetet diese in der Hand zu festen Kugeln und taucht sie
in den Sukuma. Sukuma wiki, was so viel bedeutet wie push the week, ist ein beliebtes Gemüse, das in etwa Spinat oder
Kohl ähnelt. Von den großen grünen Blättern wird zuerst der Stiel großzügig
entfernt. Dann legt man die Blätter aufeinander und rollt sie eng zusammen, um
sie nun mit einem großen Messer in möglichst dünne Streifen zu schneiden. Der Sukuma wird gemeinsam mit Zwiebelwürfeln
zuerst in etwas Fett angebraten und dann mit Wasser gedünstet; oft kann man
auch Tomaten, Ei oder Fleischstücke darin finden, dann schmeckt er noch besser. In Kiserian essen die meisten Menschen jeden Tag Ugali und lieben es; auch davon haben wir noch keine Ahnung.
Nach dem Essen gesellt sich Jane zu uns, ein junges
Mädchen, das auch den ganzen Weg aus Kiserian gekommen war, um den Film zu sehen.
Für den Rest des Abends weicht sie uns nicht von der Seite, worüber ich sehr froh bin, denn sie spricht auch Englisch und erklärt uns, was um uns herum
passiert. Inzwischen haben sich allerhand Menschen um die Leinwand versammelt, Männer, Frauen und Kinder, in einem großen Halbkreis, entweder auf
Holzbänken, Steinen und dem Boden sitzend oder auch stehend. Über uns allen
breitet sich der schwarze Nachthimmel aus, wolkenklar, mit Millionen und
Abermillionen Sternen – einen so überwältigenden Anblick des Weltalls habe ich
noch nie zuvor erlebt! Ich kann sogar, zum ersten Mal in meinem Leben,
Sternschnuppen aufblitzen sehen.
Ein Mann hält eine Andacht; wir lauschen seinen Worten und genießen den
Moment: mit etwa 200 Menschen mitten in der Abgeschiedenheit der Berge unter
sternklarem Himmel zu sitzen, als wäre das das selbstverständlichste von der
Welt! Na ja, für die allermeisten von uns ist es das auch.
Nun kommen auch die Moskitos – so ein Festmahl können sie sich unmöglich
entgehen lassen… Einmal spüre ich eine kleine Hand, die sich von hinten auf
meinen Arm legt und mir durch die Haare fährt, ganz vorsichtig, nur einmal die Mzungu berühren…
Jetzt legt Martin
endlich die erste Filmrolle ein und es kann losgehen. Gezeigt wird der
Jesusfilm, den Beate und ich auch aus Deutschland kennen, gewissermaßen ein
internationaler Klassiker, der hier von einem Sprecher auf Maa (der Sprache der Maasai) erzählt wird, während die Bilder auf der Leinwand vorbeirauschen. Es kommen immer mehr
Menschen dazu, alle drängen sich zusammen, wir staunen gemeinsam – manchmal
lachen die Leute auch auf oder machen Laute der Empörung.
In einer Szene kann
man für einen kurzen Moment im Menschengewühl Jerusalems einen Mann mit dunkler
Hautfarbe erkennen – da geraten die Zuschauer in helle Begeisterung.
Irgendwann bricht der Film ab – Martin muss die Filmrolle wechseln. Um die
Pause zu überbrücken, stimmt eine Frau irgendwo in der Menge ein Lied an, und
nach und nach fallen alle mit ein in den Gesang unter den Sternen, wunderbar!
Als der Film zu Ende ist, baut Martin den Projektor ab und
packt das Laken wieder ein, wir steigen zurück in unseren Käfig und brausen
zurück, durch die schwarze Nacht. Nach einigen Minuten hält der Pick-up:
Ein anderes Fahrzeug auf dem Weg hatte eine Reifenpanne. Martin öffnet die
Klappe des Autos und eine Gruppe Leute stieigt zu uns auf die Ladefläche. Jetzt
wird es richtig eng, wir sitzen dicht an dicht. Die Rückfahrt erscheint mir
endlos; vom langen Sitzen auf den Holzbänken tut mir der Po weh, und außerdem
setzen uns die Moskitos zu.
Es ist so finster, dass wir kaum sehen können, mit
wem wir da Knie an Knie, Arm an Arm sitzen; wir werden durchgeschüttelt und
stoßen uns alle möglichen Körperteile an und gehören einfach dazu. Im Dunkeln sind alle Katzen grau. Und alle Menschen schwarz. Auf der Rückfahrt singen und reden wir nicht. Wir hängen wohl alle unseren Gedanken nach. Es war ein besonderer Abend, ich weiß es alles noch ganz genau...
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