Meine allerliebste Lieblingsnoemi,
gestern erlebten wir beide deinen
ersten öffentlichen Tobsuchtsanfall, in einem großen und
hellhörigen Einkaufszentrum. Heute Vormittag kämpften wir bis
Tränen flossen, weil du deine Bücher nicht vom Boden aufheben
wolltest (und ich doch darauf bestand). Gestern und heute warst du
die süßeste große Schwester auf der ganzen Welt, mit all den
feuchten Küssen, die deinen Bruder bedeckten. Gestern warst und
heute bist du meine allereinzige und allerliebste Tochter, und wenn
ich dich anschaue, läuft mein Herz von Stolz und Glück über. So
wunderschön, lustig und klug bist du!
Ja, wir beide hatten es wirklich schön
zusammen: Morgens lagen wir in unseren Betten und quatschten ein
bisschen, bevor ich aufstand und das Frühstück für uns machte. Wir
konnten stundenlang Bilderbücher betrachten, ausgelassen durch die
Wohnung tanzen und das geschnippelte Gemüse naschen, bevor es in den
Topf kam. Wir spazierten durch den Park, ganz ohne Eile, und manchmal
legtest du dich einfach flach auf den Boden und schautest den Wolken
zu. Wir spielten „Schotterwagen“, bis meine Knie schlotterten,
ich sang in Endlosschleife „meine Nase ist verschwunden...“ und
manchmal kuschelten wir ein bisschen, ganz kurz, so lange du es eben
aushieltest... Wir waren ein eingespieltest Team, wir beide, du und
ich. Wir hatten unseren eigenen Rhythmus und auch unsere eigene
Sprache. Alles war gut.
Und dann kam Samuel, das kleine
Brüderchen, und unsere Welt stand plötzlich Kopf.
Meine ebenso wie deine. Dieses kleine
Wesen ist ja wirklich zuckersüß, und was für weiche Haare er hat!
Wir beide schauen ihn gern an, wenn er schläft, und küssen seinen
Kopf. Ja, er ist toll.
Aber eben auch immer da. An Mamas
Brust, auf Mamas Arm – dort, wo bis vor kurzem noch dein exklusiver
Stammplatz war. Wenn er schreit, wird er sofort hochgenommen,
getröstet, herumgetragen. Er kann nichts, weiß nichts, macht
nichts, und bekommt doch so viel von der Aufmerksamkeit, die deiner
Meinung nach allein dir zustehen würde. Er wird die Treppe
rauf getragen, während du die Stufen allein erklimmen sollst. Du
musst auf dein Frühstück warten, weil er zuerst bedient wird... Das
ist einfach nicht fair. Und neu. Und irritierend.
Ich kann verstehen, dass diese neue
Familienkonstellation dich verunsichert. Dass du glaubst, deine
Position verteidigen und sichern zu müssen. Dass du Aufmerksamkeit
möchtest, um jeden Preis. Ich verstehe dich so gut, mein Schatz, und
manchmal ist mir so, als würde mein Herz zerspringen, weil ich mich
dir gegenüber schuldig fühle. Deine Verzweiflung, deine Wut, deine
Verunsicherung schmerzen mich, und doch kann ich den Grund dafür
nicht wegnehmen. Ich kann nur versuchen, für dich da zu sein so gut
ich kann – trotz all der Stunden Schlaf, die mir inzwischen fehlen.
Ich kann dir nur zuflüstern, immer wieder, dass du mein über alles
geliebtes Kind bist, dass meine Liebe zu dir sich durch Samuels
Geburt kein bisschen verändert hat. Und ich hoffe, dass du das
weißt, auch wenn der Platz auf meinem Schoß jetzt meistens besetzt
ist.
Und weißt du eigentlich, dass du jeden
Tag eine Quelle der Ermutigung für mich bist? Immer wieder sehe ich
dich an und staune und bin stolz auf dieses kleine blonde Mädchen,
auf „Mimi“, wie du dich selber nennst. Ich denke zurück an die
ersten Tage und Wochen mit dir; daran, wie klein und winzig und
hilflos du warst – und wie hilflos ich mich selber fühlte! Wie
schwer es mir anfangs fiel, Mama zu sein, all die Verantwortung für
dich zu tragen, mich selbst zurückzustellen. Wenn ich dich anschaue,
dann erinnerst du mich daran, dass ich es schon einmal geschafft
habe. Dass der Schlaf irgendwann zu mir zurückkommen wird. Dass sich
irgendwann ein Rhythmus einstellt. Dass Samuel auch einmal alles
lernen wird, was du schon kannst. Dass ich ihn kennenlernen werde, so
wie ich auch dich kennengelernt habe, jeden Tag ein bisschen mehr. Du
erinnerst mich daran, dass ich ja schon Mama bin, und
vielleicht auch gar keine sooo schlechte... Und du führst mir vor
Augen, wie schnell die erste Zeit vergeht, obwohl die Nächte einem
manchmal endlos scheinen; du mahnst mich, doch hin und wieder
innezuhalten und zu genießen: das unendlich weiche Babyhaar, diese
kleinen Finger, das Huschen eines Lächelns über das träumende
Gesicht. Du steckst mich an mit deiner Begeisterung für unser „Baby“
und bringst mich so oft zum Lachen!
Meine allerliebste Lieblingsnoemi,
obwohl wir es gerade ein bisschen schwer haben, auch miteinander von
Zeit zu Zeit, so dürfen wir doch wissen, dass es wieder besser
werden wird. Langsam, aber sicher. Wir werden als Familie
zusammenwachsen und uns bald schon nicht mehr daran vorstellen
können, dass es mal eine Zeit ohne Samuel gab. Wir werden wieder
ungestört schlafen. Wir werden wieder mehr Mama-Noemi-Zeit haben
können. Wir werden in eine größere Wohnung ziehen. Und solange das
alles noch Zukunftsmusik ist, machen wir es uns im Jetzt und Hier
schön. Wir beide, du und ich. Denn wir haben uns, und dafür bin ich
total dankbar.
Danke für alles, was du mir zeigst,
was du mich lehrst und worin du mich herausforderst. Danke für deine
Küsse, dein Lachen, deine Lebendigkeit! Danke, dass wir jeden Tag
wieder neu miteinander beginnen und gleichzeitig an unserem
Mutter-Tochter-Beziehungshaus weiterbauen können. Danke, dass du mir
nie lange böse bist – und bitte entschuldige meine Ungeduld, meine
Genervtheit, meine Unsensibilität. Das alles tut mir leid.
Gott sei Dank, dass es dich gibt. Ich
habe dich unendlich lieb!
Deine Mama
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