Donnerstag, 12. November 2015

Verlassen




„Ich werde euch nicht als hilflose Waisen zurücklassen; ich komme zu euch.“ 
-Jesus in Johannes 14,18-


Manchmal plätschert mein Leben so vor sich hin, es läuft rund, und ich erliege der Illusion, alles im Griff zu haben. Dann merke ich nicht, dass unter der Oberfläche etwas Schweres liegt, dass da in mir eine tiefe Angst schlummert. Doch immer wieder bricht sie hervor und ich muss mich wieder damit auseinandersetzen.
Die vergangene Woche war nicht so einfach für mich; Falko war zwei Tage auf Dienstreise und ich mit den Kindern allein, außerdem fühlte ich mich nicht so fit – und dann kam Anfang dieser Woche die Nachricht, dass meine Schwester im nächsten Jahr eine große neue Aufgabe übernehmen wird. Sie wird ihren jetzigen Job kündigen und etwas anderes machen, etwas, das ihrer Ausbildung und ihrer Leidenschaft viel mehr entspricht, eine Aufgabe, die eigentlich ein Dienst ist, eher Berufung als Beruf.  Und obwohl ich mich sofort für meine Schwester freute, und ich fest davon ausgehe, dass Gott da seine Finger im Spiel hat, wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Ich spürte, wie meine Grundangst in mir aufstieg, nämlich die Angst vor dem Verlassen-werden.

Seit Noemis Geburt war (und ist) meine Schwester für mich eine unglaubliche Stütze. Wann immer ich sie brauche, kommt sie vorbei. Sie kennt die Kinder in- und auswendig, sie bewegt sich in unserer Wohnung wie in ihrem eigenen Zuhause, ihr vertraue ich mich an. Durch ihre aktuellen Arbeitszeiten verbringen wir mindestens einen Nachmittag pro Woche miteinander, und immer wieder nimmt sie mir die Kinder ab, damit ich Termine wahrnehmen oder mal zum Sport gehen kann.
Mit ihrem neuen Job wird das nicht mehr möglich sein. Dann hat sie einen anderen Rhythmus und einen deutlich längeren Arbeitsweg; unter der Woche werden wir uns praktisch nicht mehr sehen. Dass wir in derselben Stadt leben, nur fünfzehn Fahrradminuten voneinander entfernt, wird dann keine Rolle mehr spielen. Unser Familienleben wird sich dann dramatisch verändern, und diese Veränderung fürchte ich. Seit Tagen bin ich traurig. Ich fühle mich verlassen.

In den letzten Jahren sind immer wieder Freundinnen weggezogen oder Freundschaften haben sich verändert. Jeder dieser Einschnitte ist mir sehr schwer gefallen, und an manchen Weggängen habe ich heute noch zu knabbern. Ich kann sehr lange vermissen… und jedes Mal war da dieses Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit, des Im-Stich-Gelassen-Seins. Manchmal macht es mich sogar wütend, dass „alle“ gehen und mich hier zurücklassen. Und jetzt auch noch meine Schwester!

Erst in den letzten Tagen wurde mir allerdings klar, dass dieses Gefühl eine Grundangst in meinem Leben ist. Ich bin so oft überfordert mit dem Alleinsein! Natürlich brauche ich Zeiten für mich, im Alleinsein tanke ich Kraft für den Alltag. Gleichzeitig ist das „Allein“sein mit den Kindern und das Alleinsorgen für sie für mich Stress pur. Mir ist da ein interessantes Muster aufgefallen: Sobald irgendetwas nicht mehr rund läuft, sobald die Kinder sich mit ihrem Gebrüll gegenseitig übertrumpfen, eines von beiden mir die volle Teetasse aus der Hand schlägt oder wir mal wieder viel zu spät das Haus verlassen, werde ich wütend auf meinen Mann. Begründung: Weil er mich mit dem ganzen Chaos allein lässt. Weil ich allein zurechtkommen muss (mit den Kindern, die ja auch seine sind), und er mir nicht hilft. Zu seinen üblichen Arbeitszeiten habe ich das alles noch im Griff, aber wenn Falko nur eine Viertelstunde später als erwartet zu Hause eintrudelt, springe ich im Dreieck. Meine Kräfte und Nerven reichen anscheinend nicht über 17 Uhr hinaus (und dabei geht es mir ja noch gut, das ist mir bewusst!).

Das ist jämmerlich, unreif und „unprofessionell“, und von allen Seiten (besonders von der inneren Kritikerin) bekomme ich zu hören, dies seien schließlich meine Kinder, für die ich mich entschieden hätte und mit denen ich nun auch allein klar kommen müsse, und ich hätte ja auch sonst nichts zu tun… „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ „Wir müssen im Leben allein zurechtkommen und dürfen uns nicht auf andere verlassen, da wird man am Ende ja doch nur enttäuscht…“  Es wird von uns erwartet, das Leben allein zu bewältigen – oder nicht?

Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass Gott sich das menschliche Leben so vorgestellt hat, dass jeder seine eigenen Probleme beackern muss. Gott hat uns zur Gemeinschaft geschaffen und in die Gemeinschaft mit sich selbst und den Menschen um uns herum berufen. Wir sollen und können füreinander da sein so wie er für uns da ist.

Wenn mich das nächste Mal die Angst vor der Verlassenheit überfällt, möchte ich daran denken, dass mein Jesus mich nie verlässt. Vielmehr darf ich mich auf ihn verlassen! Ist das nicht ein schöner Zusammenhang, den unsere deutsche Sprache für uns herstellt? Jesus lebt in mir, und damit bin ich nie allein. Das ist ein Schatz in meinem Leben, den ich bis jetzt noch nicht wirklich geborgen habe; eine Quelle, aus der ich noch viel zu selten schöpfe. Auch wenn Menschen mich verlassen, und dies ist nun leider der Lauf der Dinge, und geschieht ja nicht aus Boshaftigkeit, bin ich letztlich doch nicht verlassen, niemals nur auf mich gestellt.

Mit meinem Kopf glaube ich, dass alles mir zum Besten dienen wird, wie es uns in Römer 8,28 zugesagt ist. Oft erkennen wir das erst später, aber manchmal können wir schon mitten im Sturm einen Hauch von Gottes guter Absicht erahnen. Jedenfalls kam mir der Gedanke, dass ich meine Schwester nun vielleicht nicht mehr so sehr brauche, wie dies in meinen zwei ersten Mama-Jahren der Fall war. Ich wusste sie an meiner Seite, als es nötig war – nun bin ich viel sicherer und ruhiger, meine Kinder schreien nicht mehr so viel und der Alltag hat sich eingependelt. Also kann ich sie getrost ziehen lassen. Es gibt nun andere Kinder, für die sie da sein muss. Kinder, die nicht so privilegiert sind wie meine.

Jesus weiß um meine Ängste, und er möchte mir heraushelfen. Manchmal fühlt es sich so an, als würde er mich ins kalte Wasser schmeißen, aber meistens ist es nicht so. Dass ich vor ein paar Monaten Elly kennengelernt und in ihr eine Freundin gefunden habe, die (für Berliner Verhältnisse) um die Ecke wohnt, war kein Zufall! Jesus nimmt mir nicht eine Stütze weg, um mich hängen zu lassen. Er versorgt mich mit allem, was ich brauche.

Und wir brauchen nicht nur Jesus. Okay, wir brauchen ihn natürlich sehr und mehr als alles andere, aber wir sind ja auch Menschen hier auf der Erde, und als solche brauchen wir natürlich andere Menschen. Das ist vollkommen in Ordnung und ja auch von Gott so gewollt. Er fordert uns dazu auf, einander mit den Gaben zu dienen, die er uns geschenkt hat; er möchte, dass wir unsere Lasten gemeinsam tragen.
Für mich bedeutet das, dass ich mir Gemeinschaft und Unterstützung suchen darf und soll. Ich muss mein Leben nicht allein bewältigen, und auch meine Kinder nicht „allein“ großziehen. Vielmehr gilt es, den falschen Stolz immer wieder runterzuschlucken und ehrlich zu sagen, wenn wir allein nicht weiterkommen. 
Vielleicht wäre doch das Leben in einer Gemeinschaft das richtige für mich - wenn ich einen Ort hätte, an dem immer jemand da ist, mit dem ich einen Kaffee trinken und ein bisschen quatschen kann... Wie wunderbar wäre das! Aber warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute direkt vor meiner Nase liegt? Wir überlegen sowieso gerade, wie wir die großartige Ressource Nachbarschaft besser nutzen und gute Kontakte zu den Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung knüpfen können. Wir möchten für andere da sein und nicht immer so für uns bleiben. 

Und während ich so diesen Text schreibe, kommt mir auch meine Dankbarkeitschallenge in den Sinn. Wofür ich dankbar bin? Für meine Freundinnen! Ganz klar. Ich bin nicht allein und nicht verlassen. Da sind so viele wunderbare Menschen in meinem Leben, die ich meine Freunde nennen darf. Ihnen möchte ich diese Woche mein DANKE aussprechen - aber dazu dann mehr in den nächsten Tagen ;)





5 Kommentare:

  1. Oh dieses verlassen werden kenne ich gut! Ich bin 2010 wegen meinem Mann 450km von meiner geliebten Familie weg gezogen, und trotz toller Gemeinde hab ich mich so schwer getan anzukommen und echte Freundinnen zu finden. Erst nach drei Jahren hatte ich zwei echte Freundinnen, und 2014 sind beide innerhalb weniger Monate weg gezogen - die Nächste wohnt nun eine Autostunde entfernt, die andere in Südafrika... (Unsere beste und fast einzige Babysitterin). Für mich überraschend haben sich dann aber bald zwei, drei bis dahin nicht so enge Beziehungen vertieft und und ich habe gemerkt, dass Gott mich wieder mit neuen Freundinnen und Helferinnen beschenkt. Sehr ungewöhnlich für mich dass das so schnell ging! Ich wünsche dir sehr, dass Gott dir auch neue Freundschaften schenkt! Sehr interessant finde ich übrigens, dass meine "neuen Freunde" völlig verschieden voneinander und von den alten Freunden sind... God can connect people! Alles Liebe, Angela

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  2. PS: Mein Vater sagt immer "Sei nicht traurig dass es vorbei ist, sondern dankbar dass du es hattest." Nicht leicht, aber so wahr! Was für einen Schatz hat Gott dir mit deiner Schwester geschenkt! Da könnte ich fast neidisch werden, obwohl ich bisher mit meinen vier Brüdern ganz zufrieden war ;-)
    LG Angela

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    1. Hallo liebe Angela, schön, dass du da bist, und danke für deine Kommentare! Ja, wirklich: God can connect people - and He does! Ich finde es auch immer wieder faszinierend, auf welch kreative Art er das tut - zum Beispiel nutzt er ganz gern meinen Blog dafür ;) Und Brüder sind was tolles, auf jeden Fall (davon hab ich auch zwei) :) Alles Gute dir für den Rest der Woche!

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  3. Liebe Rebekka, immer wieder ergibt es sich, dass deine Posts genau meine Gedanken wiedergebend! Keine Ahnung ob das Zufall ist oder einfach unserer sehr ähnlichen Lebensphase geschuldet ist aber ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht und dankbar wenn du von deinen Gedanken schreibst und sie meinen so ähnlich sind! Dann fühl ich mich nicht ganz so falsch und allein damit!
    Einpaar Mal habe ich schon gedacht, dass ich dir gerne Mal schreiben würde, aber ich finde hier weder eine Adresse noch eine Email -Adresse! Oder ist das von dir nicht so gewünscht, Post zu bekommen!? Das wäre natürlich auch ok!Ich dachte bloß ich frag einfach mal! Liebe Grüße, Denisa

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    1. Liebe Denisa, ich glaube, wir sind nie allein mit unseren Gefühlen - es gibt immer mindestens noch eine Person, der es genauso geht. Das habe ich schon oft erlebt: Wenn ich mich öffne und ehrlich erzähle, was mich beschäftigt, kommt ein "Ach, du auch?!" zurück. Wir sind halt alle nur Menschen ;)
      Wenn du mir schreiben möchtest, kannst du das SEHR GERNE tun, ich würde mich total freuen! Auf deine Anregung hin habe ich nun auch eine eMail-Adresse auf dem Blog hinterlegt: nenkishile[at]gmail.com; bisher hatte ich noch überhaupt nicht daran gedacht... Danke dir und bis bald!

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