Sonntag, 2. Dezember 2018

2. Türchen


2. Türchen: Eine Kurzgeschichte zum ersten Advent



Zwei blaue Streifen leuchten hell in dem kleinen Sichtfenster.
Eindeutig.
Marie ist schwanger.
Obwohl dieses Ergebnis für sie nicht wirklich eine Überraschung ist (die unwahrscheinliche Begegnung mit Gabriel ist erst ein paar Tage her), muss Marie sich erst mal auf den Badewannenrand setzen. Es war also wirklich kein Traum. Sie hat sich das nicht alles nur eingebildet. In ihr wächst ein Kind heran! Dabei ist sie doch erst vierzehn!
 Ich wollte doch Abi machen und studieren und die Welt sehen. Wie bringe ich das meinen Eltern bei… und Joer wird mir das doch niemals glauben, dass ich nicht…
Heftige Schläge gegen die Badezimmertür reißen Marie aus den Gedanken. „Brauchst du noch lange? Ich muss mal!“ Maries jüngerer Bruder Mathis hämmert noch einmal kräftig gegen die Tür. Schnell schiebt sie den verräterischen Schwangerschaftstest in den Ärmel ihres Pullis. Ohne ihren Bruder anzusehen, öffnet Marie die Badtür und verschwindet in ihrem Zimmer. Sie muss jetzt allein sein. Nachdenken. Einen Weg finden...

Auf dem Bett liegt ihr Tagebuch. Ich sollte es nicht so offen herumliegen lassen, ermahnt sie sich selbst. Den Test mit den zwei blauen Streifen versteckt sie unter ihrer Matratze. Dann legt sie sich aufs Bett.
Es ist so merkwürdig, dass sie gar nichts fühlt, noch gar nichts spürt von dem Wesen in ihrem Bauch, das ihr ganzes Leben umkrempelt. Ihr ist noch nicht einmal schlecht. Aber vielleicht kommt das auch erst später. Eigentlich hat Marie nicht so wirklich Ahnung von einer Schwangerschaft und was da in ihrem Körper passieren wird. Geschweige denn von Babys!
Warum ich, Gott?

Sie schlägt ihr Tagebuch auf. Es ist ein unscheinbares Notizbuch mit dünnen, eng beschriebenen Seiten. Bald wird sie ein Neues brauchen. Gerade in den letzten Tagen hatte sie so oft ein Bedürfnis danach, zu schreiben, sich jemandem anzuvertrauen.
Während sie in ihrem Tagebuch blättert, bleibt ihr Blick immer wieder an Gebeten hängen, die sie in den vergangenen Monaten aufgeschrieben hat: Bitte gebrauche mich, Gott!, hat sie geschrieben. Ich möchte dir ganz gehören. Ich will das tun, was du von mir möchtest. Egal, was es ist.
Jeder Eintrag ist ein Zeichen ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Gott.
Sie hat sich ihm besonders nah gefühlt in letzter Zeit. Hat Loblieder gesungen, auch allein in ihrem Zimmer. Hat in der Heiligen Schrift gelesen und sich viele Gedanken darüber gemacht. Hat eine brennende Sehnsucht danach verspürt, ein ganz von Gott erfülltes Leben zu führen – mit allen Konsequenzen.

Und dann, eines Abends, als der Rest der Familie schon schlief, und Marie noch in der Heiligen Schrift las, von dem Erretter, den Gott seinem Volk ankündigte, tauchte plötzlich Gabriel auf.
Er stand auf einmal in Maries Zimmer.
Ein Engel.
Unbeschreiblich schön und doch auch ganz unspektakulär, als sei es etwas vollkommen Normales für ihn, ahnungslose Leute bei ihrer Abendlektüre zu unterbrechen.
Während Marie mit offenem Mund auf ihrem Bett saß, das aufgeschlagene Buch auf den Knien, und versuchte zu begreifen, was sich gerade vor ihren Augen abspielte, begann Gabriel zu sprechen.
Er erzählte ihr, dass Gott seinen versprochenen Erretter schon sehr bald zu den Menschen auf die Erde schicken würde – als ein kleines Baby (?!).
Und dass sie, Marie, dazu auserwählt war, das göttliche Retter-Baby auf die Welt zu bringen.
 Ja, sie würde schwanger werden, ganz ohne Zutun eines Mannes, einfach durch den Heiligen Geist (ja, klar!). Und wenn das Baby dann geboren worden war, sollte sie es Jesus nennen.

Marie schluckte.
„Wie soll das alles gehen?“
Die Worte, die aus ihrem Mund kamen, klangen brüchig.
„Ich bin doch erst vierzehn. Ich kann doch keine Mutter sein, schon gar nicht für… so ein besonderes Baby!“

Durfte sie überhaupt mitreden? Es klang so, als stünde Gottes Entscheidung schon lange fest.
Was, wenn Gabriel sauer werden würde, weil sie Nachfragen stellte?

Aber der Engel lächelte sie freundlich an.
Was für ein Strahlen!
„Ich kann verstehen, dass das alles für dich ziemlich unglaublich klingt! Aber weißt du: Für Gott ist nichts unmöglich! Sogar deine Großtante Elisabeth mit ihren dreiundsiebzig Jahren ist noch schwanger geworden – weil Gott es ihr geschenkt hat. Was für ein Wunder!
Gott hat dich auserwählt, Marie, weil er dein Herz kennt. Er hat deine Liebe zu ihm und deine Bereitschaft, seinen Willen zu tun, gesehen. Und er wird dich in all dem nicht allein lassen. Er ist bei dir und bei deinem Kind. Du wirst große Dinge erleben – schöne und schwere. Du wirst ein Leben führen, wie du es dir gewünscht hast: Ein besonderes Leben, das von Gottes Herrlichkeit erfüllt ist und das andere ermutigt, sich auch Gott anzuvertrauen.“


Maries Herz klopfte bis zum Hals, als sie antwortete:
„Ja, es soll alles so passieren, wie du gesagt hast. Ich bin bereit, Gottes Willen zu tun.“

Gabriel hob die Hand zu einem letzten Gruß und verschwand so schnell und leise, wie er gekommen war.
Stille breitete sich in Maries Zimmer aus.
Eine salzige Träne rollte über ihre Wange.
Dankbarkeit,
Ehrfurcht,
Angst,
Freude,
Verwirrung,
Glück –
so viele Gedanken und Gefühle überwältigten sie.

Als sie nach ihrem Tagebuch griff, sah sie, dass ihre Hand zitterte.
Sie begann zu schreiben. Zögerlich zuerst, dann immer sicherer und schneller…


Die Worte, die sie vor wenigen Tagen geschrieben hat,  geben Marie Halt.
Sie versteht jetzt:  Dieses Kind, das in ihr heranwächst, ist eine Gebetserhörung!
Nichts ist mehr so, wie es war und alles wird anders kommen, als sie es sich vorgestellt hat.
Und doch ist das wahr geworden, was sie erbeten hat.
Gott hat auf seine eigene Art geantwortet: Mit zwei blauen Linien und einem Engelbesuch. Mit einem kleinen Baby als Retter der Welt.

Egal, was kommt – sie möchte vertrauen.

Marie klappt das Tagebuch zu und greift nach ihrem Handy, das neben dem Bett auf dem Nachttisch liegt. In wenigen Sekunden hat sie eine Nachricht getippt und verschickt: „Hallo Jo, ich muss dir unbedingt was sagen. Wann können wir uns sehen?“ 




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