9. Türchen: Budapester Kurzgeschichten zum 2. Advent
Während meines Deutsch-als-Fremdsprache-Studiums verbrachte ich ein Semester an der Eötvös-Loránd-Universität in Budpest. Bis heute ist die ungarische Hauptstadt einer meiner absoluten Lieblingsorte - ein Ort, der mich total inspiriert. Ich dachte damals: Wenn ich einmal einen Roman schreibe, dann muss ich das in Budapest tun. Es wird mir nirgends anders möglich sein.
Und ich habe tatsächlich viel geschrieben, damals in Budapest. Keinen Roman, aber ein paar Kurztexte. Ein paar davon habe ich für euch in das heutige Türchen gepackt und hoffe, dass sie euch gefallen.
Blick vom Budaer Burgberg auf Pest mit dem Parlament |
Égshínkék történetek Budapestről
Himmelblaue Geschichten aus Budapest (2010)
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igentlich hat alles in Frau F-Ks
Büro begonnen. Eines meiner ersten Treffen bei ihr. Ich hatte an die Tür
geklopft, war eingetreten, hatte meine Jacke ausgezogen und meine Tasche auf
den Stuhl neben mir gelegt, hatte ein oder zwei Sätze gesagt und sie auch, als
es wieder klopfte und eine sehr wichtige Person mit einem sehr wichtigen
Anliegen unser Gespräch unterbrach. So unterhielt sich Frau F-K mit dieser
wichtigen Person und ich saß da, auf meinem Stuhl, ließ das Gespräch an mir
vorbeiziehen, all die ungarischen Wörter und Sätze und Pausen, und schaute aus
dem Fenster. Gegenüber, in einem der Häuser stand ein Fenster offen und der
Wind bewegte die weißen Vorhänge wie mit unsichtbarer Hand. Ich konnte nicht
ins Zimmer sehen, sah nur einen schmalen schwarzen Streifen hin und wieder
zwischen den Gardinen hervorblitzen. Der Wind spielte mit dem leichten Stoff,
blähte ihn auf, ließ ihn erzittern, schob ihn mal ein wenig zur Seite, drückte
ihn dann wieder zusammen, streifte ihn zart von der Seite und schlüpfte
heimlich unter ihm hindurch ins dunkle Zimmer. Diesem Spiel sah ich zu, während
die Unterhaltung in Frau F-Ks Büro sich aufbaute und ihrem Ende zu neigte, auch
noch als die sehr wichtige Person den Raum verließ und mir höflich zunickte.
Auch als Frau F-K unser Gespräch wiederaufnahm, wanderte mein Blick immer
wieder hinter sie, kletterte aus dem Fenster und schwebte hinauf zu dem weißen
Vorhang, mit dem zu spielen der Wind nicht müde wurde. Und ich wusste, dass ich
darüber schreiben wollte, über die gläsern leichten Hände des Windes, über das
Geheimnis des schwarzen Zimmers, über die ungarischen Worte und über diese
Stadt, in der mir sogar eine weiße Gardine wie eine Geschichte vorkommt.
*^^
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ines Tages warte ich vor dem Büro
des Erasmus-Koordinators Herrn Balaci. Er muss noch ein letztes Dokument
unterschreiben und dann sind die Formalitäten erst einmal geklärt. Ich bin ein
bisschen zu früh dran und stehe vor der Tür; da taucht plötzlich der Kollege
Herrn Balacis auf, der für alle Nicht-Erasmus-Austauschstudenten zuständig ist.
Er spricht mich auf Englisch an, fragt mich, ob ich meine Zeit an der ELTE
genieße. „Well, you will very
soon enjoy it. You just have a glass of red wine every morning, and the world
will be pink, just beautiful. I always say: ‘That’s Magyaristan*, you know, like Pakistan or Afghanistan. You understand
why I say Magyaristan? Yes… Where do you come from? Ah, Germany –
Deutschland, Guten Tag, Auf Wiedersehen, vielen Dank. “ Ich wundere mich, ob er heute Morgen zum
Frühstück nicht auch schon ein oder zwei Glas Rotwein gehabt hat, oder
vielleicht auch einen Palinka
(Schnaps)…
* Ungarn heißt auf Ungarisch Magyarország.
*^^
Wie Zsofi zu ihrem Namen kam
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ls Zsofis Mutter Rozália
schwanger war, glaubte sie fest daran, dass dieses Kind in ihrem Leib, nachdem
sie bereits eine Tochter geboren und dieser den Namen Judit Eszter gegeben
hatte, ein Junge werden würde, ein Stammhalter. Die Geburt schließlich war lang
und anstrengend, so dass Zsofis Mutter sehr schwach und kaum ansprechbar war,
als man ihr das Kind reichte und danach fragte, wie es denn heißen sollte.
„György“ keuchte sie nur, immer wieder diesen Namen, „György“. Die Hebamme und
die anwesenden Schwestern sahen sich ratlos an. „Aber es ist doch ein Mädchen.
Ein Mädchen kann doch nicht György heißen! Wie willst du deine Tochter nennen?“
Nachdem Zsofis Mutter noch eine Weile lang mit letzter Kraft auf dem Namen
György bestanden hatte, konnte sie sich nicht länger widersetzen und stieß
hervor: „Rozália, nennt sie Rozália“. Danach sank sie erschöpft in die Kissen zurück und sagte kein Wort
mehr.
So bekam Zsofi also den Namen
Rozália, ebenso wie ihre Mutter, ihre Großmutter und Urgroßmutter vor ihr.
Zsofis Mutter, als sie wieder bei Kräften war, forderte ihren Mann auf, zum
Standesamt zu gehen und den Namen des Kindes in „Ildiko“ umschreiben zu lassen.
Doch aus Bequemlichkeit, und um Geld zu sparen, ließ man die Sache auf sich
beruhen; und außerdem konnte ein Name, den bereits alle weiblichen Vorfahren
getragen hatten, doch so verkehrt gar nicht sein. Rozália wuchs heran, und
erhielt im Laufe der Zeit unzählige Spitznamen: Rozsi, Rozi, Rozsika, Roza,
Rozsa… - nur die Lehrer in der Schule riefen sie bei ihrem eigentlichen Namen.
Und dabei blieb es.
*^^
Rabenkönig
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ie trat aus dem Fehér Holló Teaház (Teehaus Weißer
Rabe), hinaus auf eine der kleinen Straßen nahe dem Rákóczi tér. Während der Stunden, die sie dort verbracht hatte,
lesend, heißen Tee schlürfend, in die flackernde Kerze auf dem Tisch starrend,
war dichter Schnee gefallen. Und auch jetzt noch taumelte der Schnee in dicken,
trägen Flocken vom weiß leuchtenden Himmel. Sie wickelte ihren Schal enger um
ihren Hals. Es war so kalt, dass der Atem an der Luft gefror. Zarte Wolken aus
Eis. Sie blickte sich um, entschied dann, sich nach links zu wenden und der
Straße zu folgen. Der Schnee war noch ganz unberührt, niemand hatte ihn vor ihr
betreten. Fast tat es ihr leid darum, diese perfekte weiße Decke, die allen
Schmutz und alles Hässliche der wintergrauen Stadt verschwinden ließ, zu
zerstören, mit ihren Schritten. Vorsichtig, langsam, ging sie die Straße
entlang. Alles war still. Sie hörte nicht einen Laut, alle Welt schien zu
schlafen – auch die Straßenbahnen, die Autohupen und die Vögel. Plötzlich hörte
sie ihr Herz schlagen, hörte ihre Lunge sich füllen und leeren, ganz leise und
regelmäßig und weich. Sie lauschte, mit ihrem ganzen Körper lauschte sie in die
Stille hinein, blieb stehen in dem sie umgebenden Weiß, schloss die Augen und –
da war doch ein Geräusch.
Das Geräusch von Pferdehufen, die
im Galopp über Schnee reiten, ein wenig gedämpft, aber doch hart und auf eine
gewisse Art bedrohlich. Noch bevor sie sich umblicken konnte, hatte die
Reitergruppe sie erreicht. Sie konnte kaum zur Seite springen, wollte den
Männern zurufen – doch aus einem unbestimmten Gefühl heraus wusste sie, dass
man sie nicht hören konnte. Die Männer sahen sie nicht, nahmen ihre Gegenwart
nicht wahr. Sie hielten ihre Pferde an, riefen sich gegenseitig etwas zu. Die
Reiter schienen zu beraten, ließen ihre Pferde den Schnee zertrampeln und
erfüllten die Luft mit heißen Atemwolken. Sie trugen Waffen, Armbrüste und
Schwerter, zum Teil auch Lanzen, waren in Pelz gehüllt und saßen auf mit Gold
verzierten Ledersätteln. Einer der Männer schien der Anführer zu sein,
vielleicht ein König. Er sprach jetzt, und alle anderen wurden still, senkten
den Blick leicht und hörten auf seine Worte, die majestätisch klangen und
weise. In einer bedeutsamen Geste hob er den Arm – er hatte seine ledernen
Handschuhe abgenommen und hielt einen goldenen Ring zwischen den Fingern.
Diesen Ring streckte er dem Himmel entgegen, hielt ihn in das weiße
Schneetreiben. Aller Augen waren nun auf den goldenen Ring gerichtet.
Plötzlich stürzte sich ein
schwarzer Blitz von einem der Hausdächer hinunter, griff die Hand des Königs an
und raubte den Ring. Der Rabe flog mit seiner Beute davon. Während seine
Begleiter sich ungläubig den Schnee aus den Augen rieben, hatte der König von
seinem Waffenträger die Armbrust verlangt. Er legte sie an, zielte auf den
Vogel, und schoss. Wie ein Stein stürzte der Rabe zu Boden, fiel einige hundert
Meter entfernt auf den Schnee. Als der Waffenträger dem König den Vogel
brachte, hatte er den goldenen Ring noch im Schnabel. Der König nahm den Ring,
steckte ihn wieder an seinen Finger, und hieß seine Begleiter, die Pferde
anzutreiben.
So plötzlich sie erschienen
waren, so unerwartet waren sie auch wieder verschwunden. Zurück blieben nur die
Spuren der Pferde im Schnee, aufgewühltes Weiß, und ein kleiner roter Fleck.
Das Blut des Raben, den König Matthias
Corvin, der Rabenkönig, abgeschossen hatte.
*^^
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in Mann geht über die Straße, mit
einer gewaltigen Kettensäge in der Hand. Am Straßenrand steht ein Bettler, mit
leerem Blick, auf weiße Krücken gestützt, einbeinig und hält in der Hand einen
Becher, in den ab und zu ein mitleidiger Passant eine Münze wirft, die der Mann
betastet und in seine Brusttasche gleiten lässt. Ein altes Frauchen überquert
Hand in Hand mit ihren drei putzmunteren Enkelkindern den Zebrastreifen. In
einem vorbeifahrenden Bus drückt sich ein kleiner Junge die Nase an der
Fensterscheibe platt. Tauben flattern auf, taumeln durch die Luft und lassen
sich auf den tapferen Steinmännern nieder, die einst VITAM ET SANGUINEM für
Maria Theresia opferten. Das Gesicht einer älteren Dame ist von Sorge
gezeichnet. Ängstlich umklammert sie ihre Tasche, mahlt mit den Kiefern und
blinzelt mit zuckenden Blicken aus ihren zusammengekniffenen Augen.
Eine Romafamilie steigt in den
Bus. Leute schauen weg, eisern. Feindliche Stimmung kommt auf, ist förmlich zu
riechen. Die Kinder lachen, zupfen an der Jacke ihrer Mutter, die versucht,
sich einen Stahlpanzer wachsen zu lassen, um die Blicke an sich abprallen
lassen zu können, die sich wie Pfeile in ihre Seele bohren. Der Gemüsemann
tritt aus seinem kleinen Laden, ordnet die Mandarinen in der Kiste, lächelt einer
vorbei gehenden Stammkundin zu, streicht beinahe zärtlich über die glatte,
harte Haut eines Kürbis. Ein Mann spuckt Sonnenblumenkernschalen auf den
glänzenden Asphalt. Ein Hund hebt das Bein an einer Laterne. Eine junge Frau
mit sehr kurzem Rock und sehr langen Beinen zieht alle Blicke auf sich,
schüttelt ihr Haar und lächelt gleichgültig. Aus einem Geschäft tönt Musik. Der
Zeiger der großen Kirchturmuhr springt weiter. Der Bus fährt an einer großen
grauen Hauswand mit ordentlich neben- und übereinander gestapelten Fenstern
vorbei. Vor einem der Fenster hat jemand Blumen gepflanzt, rote Geranien.
Wunderschön! Ich könnte noch lange weiterlesen. Hat einen tollen Charme! Bitte schreib irgendwann ein Buch. :)
AntwortenLöschenOh, danke dir! Dein Kompliment freut mich so sehr! Und ja, irgendwann mache ich das, unbedingt! :)
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