Sonntag, 9. Dezember 2018

9. Türchen


9. Türchen: Budapester Kurzgeschichten zum 2. Advent

Während meines Deutsch-als-Fremdsprache-Studiums verbrachte ich ein Semester an der Eötvös-Loránd-Universität in Budpest. Bis heute ist die ungarische Hauptstadt einer meiner absoluten Lieblingsorte - ein Ort, der mich total inspiriert. Ich dachte damals: Wenn ich einmal einen Roman schreibe, dann muss ich das in Budapest tun. Es wird mir nirgends anders möglich sein.
Und ich habe tatsächlich viel geschrieben, damals in Budapest. Keinen Roman, aber ein paar Kurztexte. Ein paar davon habe ich für euch in das heutige Türchen gepackt und hoffe, dass sie euch gefallen.

Blick vom Budaer Burgberg auf Pest mit dem Parlament


Égshínkék történetek Budapestről
Himmelblaue Geschichten aus Budapest (2010)



 E

igentlich hat alles in Frau F-Ks Büro begonnen. Eines meiner ersten Treffen bei ihr. Ich hatte an die Tür geklopft, war eingetreten, hatte meine Jacke ausgezogen und meine Tasche auf den Stuhl neben mir gelegt, hatte ein oder zwei Sätze gesagt und sie auch, als es wieder klopfte und eine sehr wichtige Person mit einem sehr wichtigen Anliegen unser Gespräch unterbrach. So unterhielt sich Frau F-K mit dieser wichtigen Person und ich saß da, auf meinem Stuhl, ließ das Gespräch an mir vorbeiziehen, all die ungarischen Wörter und Sätze und Pausen, und schaute aus dem Fenster. Gegenüber, in einem der Häuser stand ein Fenster offen und der Wind bewegte die weißen Vorhänge wie mit unsichtbarer Hand. Ich konnte nicht ins Zimmer sehen, sah nur einen schmalen schwarzen Streifen hin und wieder zwischen den Gardinen hervorblitzen. Der Wind spielte mit dem leichten Stoff, blähte ihn auf, ließ ihn erzittern, schob ihn mal ein wenig zur Seite, drückte ihn dann wieder zusammen, streifte ihn zart von der Seite und schlüpfte heimlich unter ihm hindurch ins dunkle Zimmer. Diesem Spiel sah ich zu, während die Unterhaltung in Frau F-Ks Büro sich aufbaute und ihrem Ende zu neigte, auch noch als die sehr wichtige Person den Raum verließ und mir höflich zunickte. Auch als Frau F-K unser Gespräch wiederaufnahm, wanderte mein Blick immer wieder hinter sie, kletterte aus dem Fenster und schwebte hinauf zu dem weißen Vorhang, mit dem zu spielen der Wind nicht müde wurde. Und ich wusste, dass ich darüber schreiben wollte, über die gläsern leichten Hände des Windes, über das Geheimnis des schwarzen Zimmers, über die ungarischen Worte und über diese Stadt, in der mir sogar eine weiße Gardine wie eine Geschichte vorkommt.


*^^



E
ines Tages warte ich vor dem Büro des Erasmus-Koordinators Herrn Balaci. Er muss noch ein letztes Dokument unterschreiben und dann sind die Formalitäten erst einmal geklärt. Ich bin ein bisschen zu früh dran und stehe vor der Tür; da taucht plötzlich der Kollege Herrn Balacis auf, der für alle Nicht-Erasmus-Austauschstudenten zuständig ist. Er spricht mich auf Englisch an, fragt mich, ob ich meine Zeit an der ELTE genieße. „Well, you will very soon enjoy it. You just have a glass of red wine every morning, and the world will be pink, just beautiful. I always say: ‘That’s Magyaristan*, you know, like Pakistan or Afghanistan. You understand why I say Magyaristan? Yes… Where do you come from? Ah, Germany – Deutschland, Guten Tag, Auf Wiedersehen, vielen Dank. “  Ich wundere mich, ob er heute Morgen zum Frühstück nicht auch schon ein oder zwei Glas Rotwein gehabt hat, oder vielleicht auch einen Palinka (Schnaps)…
* Ungarn heißt auf Ungarisch Magyarország.



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Wie Zsofi zu ihrem Namen kam
A
ls Zsofis Mutter Rozália schwanger war, glaubte sie fest daran, dass dieses Kind in ihrem Leib, nachdem sie bereits eine Tochter geboren und dieser den Namen Judit Eszter gegeben hatte, ein Junge werden würde, ein Stammhalter. Die Geburt schließlich war lang und anstrengend, so dass Zsofis Mutter sehr schwach und kaum ansprechbar war, als man ihr das Kind reichte und danach fragte, wie es denn heißen sollte. „György“ keuchte sie nur, immer wieder diesen Namen, „György“. Die Hebamme und die anwesenden Schwestern sahen sich ratlos an. „Aber es ist doch ein Mädchen. Ein Mädchen kann doch nicht György heißen! Wie willst du deine Tochter nennen?“ Nachdem Zsofis Mutter noch eine Weile lang mit letzter Kraft auf dem Namen György bestanden hatte, konnte sie sich nicht länger widersetzen und stieß hervor: „Rozália, nennt sie Rozália“. Danach sank sie erschöpft  in die Kissen zurück und sagte kein Wort mehr.

So bekam Zsofi also den Namen Rozália, ebenso wie ihre Mutter, ihre Großmutter und Urgroßmutter vor ihr. Zsofis Mutter, als sie wieder bei Kräften war, forderte ihren Mann auf, zum Standesamt zu gehen und den Namen des Kindes in „Ildiko“ umschreiben zu lassen. Doch aus Bequemlichkeit, und um Geld zu sparen, ließ man die Sache auf sich beruhen; und außerdem konnte ein Name, den bereits alle weiblichen Vorfahren getragen hatten, doch so verkehrt gar nicht sein. Rozália wuchs heran, und erhielt im Laufe der Zeit unzählige Spitznamen: Rozsi, Rozi, Rozsika, Roza, Rozsa… - nur die Lehrer in der Schule riefen sie bei ihrem eigentlichen Namen.

Eines Tages war Zsofi mit einer Freundin zum Spielen verabredet. Sie war schon viel zu spät dran, hätte losrennen müssen, um noch pünktlich zu sein, doch im Fernsehen lief gerade die wunderbare Sendung „Zsofi, der Orang-Utan“. Von dieser unterhaltsamen Geschichte konnte sie sich lange nicht losreißen; zu schön waren die Bilder und zu spannend die Erlebnisse des kleinen Affen. Als sie schließlich, hoffnungslos verspätet, bei ihrer Freundin ankam, saß diese vor dem Fernseher und schaute die letzten Minuten von „Zsofi, der Orang-Utan“.  Sie schimpfte ein bisschen wegen Zsofis Verspätung, aber nicht allzu sehr, da ihr der Orang-Utan die Wartezeit sehr angenehm gestaltet hatte, und begann, Rozália „Zsofi, der Orang-Utan“ zu nennen. Mit der Zeit fiel der Affe weg, und immer mehr Leute nannten das Mädchen, das einst von ihrer Mutter den Namen „Rozália“ erhalten hatte, Zsofi.
Und dabei blieb es.




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Rabenkönig
S
ie trat aus dem Fehér Holló Teaház (Teehaus Weißer Rabe), hinaus auf eine der kleinen Straßen nahe dem Rákóczi tér. Während der Stunden, die sie dort verbracht hatte, lesend, heißen Tee schlürfend, in die flackernde Kerze auf dem Tisch starrend, war dichter Schnee gefallen. Und auch jetzt noch taumelte der Schnee in dicken, trägen Flocken vom weiß leuchtenden Himmel. Sie wickelte ihren Schal enger um ihren Hals. Es war so kalt, dass der Atem an der Luft gefror. Zarte Wolken aus Eis. Sie blickte sich um, entschied dann, sich nach links zu wenden und der Straße zu folgen. Der Schnee war noch ganz unberührt, niemand hatte ihn vor ihr betreten. Fast tat es ihr leid darum, diese perfekte weiße Decke, die allen Schmutz und alles Hässliche der wintergrauen Stadt verschwinden ließ, zu zerstören, mit ihren Schritten. Vorsichtig, langsam, ging sie die Straße entlang. Alles war still. Sie hörte nicht einen Laut, alle Welt schien zu schlafen – auch die Straßenbahnen, die Autohupen und die Vögel. Plötzlich hörte sie ihr Herz schlagen, hörte ihre Lunge sich füllen und leeren, ganz leise und regelmäßig und weich. Sie lauschte, mit ihrem ganzen Körper lauschte sie in die Stille hinein, blieb stehen in dem sie umgebenden Weiß, schloss die Augen und – da war doch ein Geräusch.

Das Geräusch von Pferdehufen, die im Galopp über Schnee reiten, ein wenig gedämpft, aber doch hart und auf eine gewisse Art bedrohlich. Noch bevor sie sich umblicken konnte, hatte die Reitergruppe sie erreicht. Sie konnte kaum zur Seite springen, wollte den Männern zurufen – doch aus einem unbestimmten Gefühl heraus wusste sie, dass man sie nicht hören konnte. Die Männer sahen sie nicht, nahmen ihre Gegenwart nicht wahr. Sie hielten ihre Pferde an, riefen sich gegenseitig etwas zu. Die Reiter schienen zu beraten, ließen ihre Pferde den Schnee zertrampeln und erfüllten die Luft mit heißen Atemwolken. Sie trugen Waffen, Armbrüste und Schwerter, zum Teil auch Lanzen, waren in Pelz gehüllt und saßen auf mit Gold verzierten Ledersätteln. Einer der Männer schien der Anführer zu sein, vielleicht ein König. Er sprach jetzt, und alle anderen wurden still, senkten den Blick leicht und hörten auf seine Worte, die majestätisch klangen und weise. In einer bedeutsamen Geste hob er den Arm – er hatte seine ledernen Handschuhe abgenommen und hielt einen goldenen Ring zwischen den Fingern. Diesen Ring streckte er dem Himmel entgegen, hielt ihn in das weiße Schneetreiben. Aller Augen waren nun auf den goldenen Ring gerichtet. 

Plötzlich stürzte sich ein schwarzer Blitz von einem der Hausdächer hinunter, griff die Hand des Königs an und raubte den Ring. Der Rabe flog mit seiner Beute davon. Während seine Begleiter sich ungläubig den Schnee aus den Augen rieben, hatte der König von seinem Waffenträger die Armbrust verlangt. Er legte sie an, zielte auf den Vogel, und schoss. Wie ein Stein stürzte der Rabe zu Boden, fiel einige hundert Meter entfernt auf den Schnee. Als der Waffenträger dem König den Vogel brachte, hatte er den goldenen Ring noch im Schnabel. Der König nahm den Ring, steckte ihn wieder an seinen Finger, und hieß seine Begleiter, die Pferde anzutreiben.
So plötzlich sie erschienen waren, so unerwartet waren sie auch wieder verschwunden. Zurück blieben nur die Spuren der Pferde im Schnee, aufgewühltes Weiß, und ein kleiner roter Fleck. Das Blut des Raben, den König Matthias Corvin, der Rabenkönig, abgeschossen hatte.

*^^


E
in Mann geht über die Straße, mit einer gewaltigen Kettensäge in der Hand. Am Straßenrand steht ein Bettler, mit leerem Blick, auf weiße Krücken gestützt, einbeinig und hält in der Hand einen Becher, in den ab und zu ein mitleidiger Passant eine Münze wirft, die der Mann betastet und in seine Brusttasche gleiten lässt. Ein altes Frauchen überquert Hand in Hand mit ihren drei putzmunteren Enkelkindern den Zebrastreifen. In einem vorbeifahrenden Bus drückt sich ein kleiner Junge die Nase an der Fensterscheibe platt. Tauben flattern auf, taumeln durch die Luft und lassen sich auf den tapferen Steinmännern nieder, die einst VITAM ET SANGUINEM für Maria Theresia opferten. Das Gesicht einer älteren Dame ist von Sorge gezeichnet. Ängstlich umklammert sie ihre Tasche, mahlt mit den Kiefern und blinzelt mit zuckenden Blicken aus ihren zusammengekniffenen Augen.
Eine Romafamilie steigt in den Bus. Leute schauen weg, eisern. Feindliche Stimmung kommt auf, ist förmlich zu riechen. Die Kinder lachen, zupfen an der Jacke ihrer Mutter, die versucht, sich einen Stahlpanzer wachsen zu lassen, um die Blicke an sich abprallen lassen zu können, die sich wie Pfeile in ihre Seele bohren. Der Gemüsemann tritt aus seinem kleinen Laden, ordnet die Mandarinen in der Kiste, lächelt einer vorbei gehenden Stammkundin zu, streicht beinahe zärtlich über die glatte, harte Haut eines Kürbis. Ein Mann spuckt Sonnenblumenkernschalen auf den glänzenden Asphalt. Ein Hund hebt das Bein an einer Laterne. Eine junge Frau mit sehr kurzem Rock und sehr langen Beinen zieht alle Blicke auf sich, schüttelt ihr Haar und lächelt gleichgültig. Aus einem Geschäft tönt Musik. Der Zeiger der großen Kirchturmuhr springt weiter. Der Bus fährt an einer großen grauen Hauswand mit ordentlich neben- und übereinander gestapelten Fenstern vorbei. Vor einem der Fenster hat jemand Blumen gepflanzt, rote Geranien.
 






2 Kommentare:

  1. Wunderschön! Ich könnte noch lange weiterlesen. Hat einen tollen Charme! Bitte schreib irgendwann ein Buch. :)

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    1. Oh, danke dir! Dein Kompliment freut mich so sehr! Und ja, irgendwann mache ich das, unbedingt! :)

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